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DAS BUCH DER MAGISCHEN SPRÜCHE - PARTY IM TURMZIMMER

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Nun war die Reihe an Caspar, seine Erlebnisse in Rammstadt zum Besten zu geben. Louise behauptete, in den wenigen Briefen habe er die Hälfte zu erwähnen vergessen. Das gab Caspar bereitwillig zu. Weil er jedoch vieles mit Frieder gemeinsam erlebt hatte, fielen die beiden – zur Erheiterung ihrer beiden Zuhörerinnen – einander ständig berichtigend oder ergänzend ins Wort.

Caspar bestritt energisch, mit seinem Kahn auf der Ramme wie ein Wilder umhergeschossen zu sein und übertrieb schauerlich, als er beschrieb, wie er den Stromschnellen aus eigener Kraft entkommen war. Frieder lästerte ausgiebig über Caspars Begriffsstutzigkeit beim Schwimmen und dessen fortwährenden Versuch, sich im Badebecken zu ertränken. Caspar warf dem Freund vor, das behaupte dieser nur, um herauszustellen, was für ein guter Schwimmer er selbst sei.

Die Rettung des glatzbäuchigen Professors ging allein deshalb unwidersprochen über die Runden, weil Frieder nicht dabei gewesen war. Caspar schwor hoch und heilig, er sei diesmal bei der Wahrheit geblieben und das stimmte sogar.

Die Schilderung der Erlösung des ‚Spökenmannes’ überließ er Frieder anfangs allein. Daran hing ja dessen mittelalterliche Familien-Vorgeschichte. Als der Freund aber beim Wortwechsel zwischen dem ‚Spökenmann’ und ‚Vetter Hinrich’ angekommen war, bestand Caspar auf der schauspielerischen Wiedergabe. Er führte vor, wie Frieder gegen die unsichtbare Trennwand gerannt war, kreuzte fromm die Arme über der Brust und sprach in seiner Eigenschaft als Abt mit salbungsvoller Stimme in altertümlicher Wortwahl. Im Gegenzug lästerte Frieder darüber, dass Caspar im entscheidenden Moment der Lösungsspruch entfallen war.

„Ein verlässlicher Magier ist also an ihm nicht verlorengegangen“, versicherte er grienend und ließ sich bis zur Beerdigung des ‚Spökenmannes’ das Wort nicht wieder entreißen. Gegen diese beeindruckende Geschichte erschienen der Einbruch des Straßenarbeiters und selbst das Eindringen des Gehörnten in Caspars Kammer geradezu farblos.

Mitternacht nahte bereits, als Caspar versicherte, dass nun wirklich alles gesagt sei. Von seiner Fähigkeit, Dinge der Sichtbarkeit zu entziehen, erwähnte er kein Wort. Auch Frieder rührte nicht daran.

Louise füllte die Gläser erneut. Diesmal stießen sie auf den glücklichen Ausgang aller Geschichten an.

„Mich wundert, wie selbstverständlich ihr drei über Geister redet“, bemerkte Frieder nachdenklich. „Caspars Geschichten wirken schließlich auf den ersten und selbst auf den zweiten und dritten Blick unglaubwürdig, bis man selbst mittendrin steckt.“ Er blickte Louise an. „Das gilt auch für die Geschichten in deiner Familie.“

Grit meinte dagegen, es sei viel verwunderlicher, dass die meisten Menschen nur das als vorhanden gelten ließen, was ihre wenig geschärften Sinne wahrnähmen. „Als gäbe es nichts außerhalb der menschlichen Vernunft.“

„Nun werdet nicht tiefsinnig“, protestierte Caspar. „Sonst müssen wir den Pastor einladen! Die Prinzessin ist uns noch ihren Bericht schuldig.“

Louise versicherte, es gehe ihr wie Grit. „Meine Ausbildung verläuft ohne besondere Höhepunkte, einige Verehrer nicht gerechnet, die mir Blumen schenken, von denen ich weiß, dass sie von den Versuchsbeeten gestohlen wurden. Dass Anselm Rosengarts Grab gefunden wurde, wisst ihr ja. Grit und ich haben bei diesem Anlass unserem geisterungläubigen Pastor mal so richtig die Meinung gegeigt. Es passt zu dem, was Grit eben sagte. Er wollte uns weismachen, Isa-Louises Geschichte beruhe auf Teufelsblendwerk, denn an die Existenz des Gehörnten glaubt er wenigstens – als ob das nicht auch ein Geist ist! Ja, das war es auch schon.“

Grit wollte etwas anfügen, aber Louise machte ihr verstohlen ein Zeichen zu schweigen. Sie wollte heute nicht vom badenden Faun sprechen, denn dann hätte sie ehrlicherweise auch den nächtlichen Besuch der Nymphe preisgeben müssen und darüber wusste nicht einmal Grit Bescheid.

Die Kerzen waren inzwischen weit heruntergebrannt. „Ich muss neue holen“, sagte Louise. Caspar ergriff einen Leuchter und begleitete sie. Der Kerzenkasten stand in ihrem Zimmer auf dem Tisch. Eigentlich hätten beide sofort umkehren können, aber Louise schien keine Eile zu haben. Also stellte Caspar den Leuchter ab und ersetzte dessen Kerzenstummel an Ort und Stelle.

„Es scheint, Frieder und Grit verstehen sich ein bisschen mehr als nur gut“, sagte Louise, während sie ihm dabei zusah.

Er nickte. „Zwischen beiden lief auf den ersten Blick etwas ab wie ein Blitz-Gewitter ohne Donner.“

Louise lachte über diesen Vergleich und gab zu, sie fände Frieder auch sehr sympathisch.“

„Dagegen ist nichts einzuwenden, solange du dich nicht in ihn verliebst“, grummelte Caspar.

Louise senkte die Stimme ein wenig. „Mal abgesehen davon, dass man einer Freundin den Verehrer nicht stiehlt – wer sollte etwas dagegen haben?“ Caspars Antwort fiel kurz aus. „Ich.“

„Und warum?“ Louise hielt den Atem an.

„Weil ich vorhabe, den König zu gegebener Zeit um die Hand der Prinzessin zu bitten, in der Hoffnung, er überlässt ihr als Mitgift das halbe Königreich.“

Ungläubiges Staunen überkam Louise. Genau das war ihr durch den Kopf gegangen, als sie mit Caspar am Tor gestanden hatte. Das konnte er doch unmöglich wissen! Sie trat dicht an ihn heran. Kerzenschein fiel auf ihr Gesicht. „Höre ich richtig? Du willst die Prinzessin nur wegen des halben Königreichs heiraten?“

Caspar erkannte, nun wurde es ernst. Eigentlich ging es für ihn jetzt weiter mit … ich liebe dich … du bist die Schönste … ich würde dir sofort alle meine Reagenzgläser opfern … sogar dem Teufel den roten Stein in den Rachen werfen … was man eben bei solcher Gelegenheit ehrlichen Herzens gestand. Stattdessen sagte er: „Heiraten nicht w e g e n, sondern nicht o h n e! Ich bin ein Caspar Habenichts und die Prinzessin ist an Schlösschen, Auto, Vater Kuno, gelbe Seidenkleider, Köchin, Sekt und kaltes Buffet gewöhnt. Das kostet! Woher sollte ich dafür das Geld nehmen? Es sei denn“, er machte eine Pause, „es sei denn, die Prinzessin verzichtete auf all diese Annehmlichkeiten. Dann kann Caspar Habenichts das halbe Königreich gestohlen bleiben.“

„Die Prinzessin verzichtet“, flüsterte Louise und blickte ihn auf eine gewisse Weise an, von der sich die Schmetterlinge in seinem Bauch angesprochen fühlten.

„Aber die Prinzessin möchte eine Liebeserklärung hören“, dachte Louise. „Darauf verzichtet sie nicht!“

Caspar zuckte zusammen wie am Tor. Da war es wieder – er las doch Gedanken! Liebeserklärung? Oh, Grundgütiger! Gab’s dafür eine Gebrauchsanleitung? Aber Augenblick – vielleicht klappte es ja auch umgekehrt mit der Gedankenübertragung!

Caspar blickte Louise in die Augen, dachte mit allem Nachdruck: „Ich liebe dich … das weißt du doch … ich liebe dich wirklich sehr!“ Und erkannte an Louises erwartungsvollen Augen, dass sie nichts, aber auch gar nicht wahrnahm. Da gab er sich einen Ruck und sprach aus, was ihn bewegte, nahm die Prinzessin vorerst auch ohne halbes Königreich in den Arm und küsste sie, anfangs ungeschickt – denn in dieser Kunst fehlte ihm jegliche Übung – aber von Mal zu Mal besser. Irgendwann fiel beiden ein, dass sie ja eigentlich nach Kerzen unterwegs gewesen waren. Louise griff hastig nach dem Karton, Caspar nach dem Leuchter und beide hasteten ins Turmzimmer hinauf.

Dort war es – zumindest für Louises Begriff – zappenduster, während Caspar bereits an der Tür ohne Mühe erkannte, was im Turmzimmer in ihrer Abwesenheit geschehen war …

Louise tastete sich zum Fenster und steckte mit schlechtem Gewissen neue Kerzen auf. Caspar zündete sie an und dann bot sich beiden gut ausgeleuchtet ein bemerkenswertes Bild: Grit schlief in ihrer grünen Seidenpracht auf dem Sofa. Frieder hatte, in Ermangelung einer schöneren Beschäftigung, die Reste des Buffets niedergemacht, die letzten zwei Flaschen Sekt geleert und lehnte nun mit glasigen Augen in einem Sesselchen. Sobald Caspar ihm ins Blickfeld geriet, lallte er schwerzüngig: „Ich wusste nich … dass ihr die Kerz’n erst ssu … ssu Fuß aus … Rammstadt hol’n müsst. Die Prinssess’n … ich meine meine Prinssess’n … pennt … is eingeschlaf’n, mein’ ich! Von alleine … ohne Schp … Schpind’l. Die Dorn’hecke wächs … un wächs! Kein Traum! Ich binnu der Prinss, bin’ch nu. Wo’s wo’s mein Fferd? “

Er schraubte sich aus dem Sesselchen hoch und peilte das Sofa an. „Nu mussich se küss’n“, verkündete er. „Nu isses meine Fli … Flicht. Spiel-an-wei-sung.“ Das lange Wort gelang Frieder erstaunlich gut. Er stützte sich auf der Sofalehne ab, plumpste auf die Knie und näherte sich in Zeitlupe Grits Gesicht. Offenbar fand er die richtige Stelle, denn der Kuss geriet lang und länger.

Louise kicherte ausgelassen und blickte erst besorgt, als Grit unartikulierte Laute von sich gab und den Rücken des ‚Prinzen’ wenig liebevoll mit dem freien Arm bearbeitete. Auch Caspar dämmerte es – Frieder drückte seinem Dornröschen die Luft ab. Er sprang hinzu und zerrte den allzu eifrigen Liebhaber an den Schultern zurück.

„Danke“, ächzte Grit. „Gegen’s Küssen hab’ ich ja nichts, aber ich brauch’ die Nase zum Atmen.“

„Sie re … redet“, freute sich Frieder. „Ich hab’ sie … richtich … hab’ sie wach-ge-küsst. Ende gut … Frieder gut. Un wenner … wenner nich … da war doch noch was …“

„Und wenn er nicht zu viel gesoffen hätte, wär’ er jetzt nicht blau“, sagte Caspar trocken und zog den Freund auf den Sessel zurück.

„Wo seid ihr denn so lange gewesen?“, wollte Grit wissen.

Louise wurde unter dem forschenden Blick der Freundin verlegen. „Ich glaube, wir haben uns eben verlobt, aber ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte sie leise.

Caspars Ohren fingen das Gewisper ein. „Wenn verloben von den Ringen abhängig ist, war’s was anderes“, meldete er sich.

„And’res ist auch gut. Darauf wird angestoßen.“ Grit musterte die Sektflaschen, aber die waren alle leer.

Caspar grinste. „Zu spät. Die hat dein Prinz ausgepichelt. Den wirst jetzt du zur Abwechslung wachküssen müssen.“

Frieder hing mit geschlossenen Augen über der Sessellehne, hob aber ein wenig den Arm. Es war nicht klar, ob er protestierte oder beipflichtete. Jedenfalls war es Zeit, das Dornröschenzimmer dicht zu machen. Caspar lud sich den grummelnden Märchenprinzen auf die Schulter. Grit und Louise leuchteten ihm Stufe um Stufe nach unten. Die Nachtkühle weckte den tapferen Zecher so weit auf, dass er mit Unterstützung von rechts und links einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Jenseits des Tores schleifte Grit ihn allein weiter, denn Caspars Abschied von der Prinzessin dauerte länger als sonst. Er holte die Dahintaumelnden erst an der Straßenbiegung ein und war froh, dass Grit vorschlug, Frieder in die väterliche Scheune zu packen. Selbst der kurze Weg bis zum Bauernhof schien sich endlos hinzuziehen, denn der Märchenprinz schlief im Gehen und fiel schließlich auf der Tenne wie ein Sack Kartoffeln ins Stroh. Grit deckte ihn mit zwei Decken zu und schob ihm eine dritte unter den Kopf. „Der Ärmste“, sagte sie, hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Lachen. „Nun isser doch noch unten auf der Tenne gelandet.“

„Entweder bleibt er nun in der Dornenhecke stecken, die er vergangene Nacht im Traum gesehen hat oder er spinnt euch bis morgen alles Stroh zu Gold“, lästerte Caspar und schob das Scheunentor zu.

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