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DER UNWEGSAME PFAD DER ZEIT

Im Januar 1945 nähert sich die Rote Armee auch der Stadt Liegnitz (heute Legnica). Die Einwohner werden evakuiert, aber nicht alle folgen der Aufforderung. Zu den Zögerlichen gehört auch die Familie Kotzerke.

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Gertrud Kotzerke lag ihrem Jorg seit Tagen in den Ohren, er solle Erika heimholen und mit der Familie die Stadt verlassen.

Kotzerke tat weder das eine, noch beabsichtigte er, das andere zu befolgen. Was würde mit seinem sauer erworbenen Stückchen Land und dem Häuschen geschehen, wenn niemand da war, der es bewachte? Sollte Gertrud mit den jüngsten Kindern und ihrer Schwester Klara ruhig flüchten, er würde sich nicht von der Stelle rühren. Bis Liegnitz schafften es die Russen ohnehin nicht.

Am 3. Februar früh machte Gertrud sich selbst auf den Weg in die Innenstadt.

Das Haus des Sturmbannführers befand sich in der Opitzstraße. Kein Mensch war dort zu sehen: Nicht verwunderlich bei den herrschenden Minus-Graden. Auf ihr Klingeln rührte sich niemand. Das kam Gertrud verdächtig vor. Energisch hämmerte sie gegen die Haustür. Stille. Sie umrundete das Haus und geriet an die Hintertür, deren Verglasung einen Sprung hatte. Ohne Gewissensbisse schlug sie die Scheibe ein und lauschte. Nichts. Offenbar hatte sich der Sturmbannführer mit Frau und Kindern bereits abgesetzt. Er würde doch ihre Erika nicht mitgenommen haben? Das Mädchen war erst sechzehn. Vorsichtig entfernte Gertrud die größeren Scherben, ertastete die innere Klinke und drückte sie nieder. Die Tür sprang auf. Eigentlich verschloss man das Haus doch, wenn man es verließ!

Der kurze Gang führte direkt in die geräumige Wohnküche. Es sah nicht aus, als sei sie in Eile verlassen worden. Gertrud schaute ins Wohnzimmer und auch ins Arbeitszimmer des Sturmbannführers, stieg hinauf ins Obergeschoss und öffnete eine Tür. Aha! Das Schlafzimmer des Ehepaares. Die Betten waren noch nicht gemacht. Das galt auch für die Zimmer der Kinder. Es sah darin aus wie aufgestanden und  eben mal weggegangen. Eine Tür blieb noch übrig. Gertrud öffnete sie in der Hoffnung, Erika dort schlafend vorzufinden. Aber auch dieses Bett war leer.

„Der verfluchte Schweinehund!”, schimpfte sie nun lauthals. „Er hat's Malla tatsächlich mitgenomm'!”

Wütend warf sie die Tür zu und wandte sich zum Gehen. Da fiel ihr die Bodentreppe ins Auge. Dort lag auf einer der Stufen, als habe sie ihn in der Eile verloren, Erikas linker Bettschuh. Sofort beruhigte Gertrud sich. Alles bekam nun einen Sinn: Der Sturmbannführer war mit der Familie geflüchtet und Erika sollte das Haus hüten, eine Frechheit, dies von einer Minderjährigen zu verlangen. Vermutlich hatte sich ihre Tochter, als es klingelte, auf dem Boden versteckt.

„Kumm ock runter, Rikchen!”, rief Gertrud. „Ich bin's, die Mama!”

Weil sich nichts tat, stieg sie die Treppe hinauf, nahm den Bettschuh auf und wollte die Bodentür öffnen. Verschlossen war sie nicht, aber etwas Schweres schien von innen dagegen zu drücken. Gertrud warf sich mit ihrem nicht gerade geringen Gewicht gegen die Tür und schob das Hindernis zur Seite.  

Auf dem Boden herrschte Halbdunkel, an das sich ihre Augen erst gewöhnen mussten. Was sie für ein vorgeschobenes Möbelstück gehalten hatte, war ein Mensch. Ein Toter. Der Sturmbannführer. Sie hatte ihn mit der Tür zur Seite geschoben, wie eine breite Blutbahn zeigte.

Als Gertrud sich endlich vom Anblick des Toten zu lösen vermochte und ihre Blicke weiter durch den Bodenraum glitten, schrie sie auf, schrie ... und schrie ...

 

Einem Nachbar des Sturmbannführers lief eine ältere Frau direkt in die Arme, die wie eine Wahnsinnige brüllte. Es war kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen, sie zeigte nur immer wieder auf das Haus des SS-Mannes. Dort musste etwas Schlimmes passiert sein. Inzwischen hatten sich infolge des Geschreis auch andere Anwohner auf der Straße eingefunden. Sie nahmen sich der Unbekannten an.

Beunruhigt betrat der Nachbar das fremde Haus, ebenfalls durch die Hintertür, warf einen Blick in jedes Zimmer und stieg zuletzt auf den Boden ...

Der Sturmbannführer hatte sich in voller Montur erschossen, doch zuvor seine Frau, drei Kinder zwischen vier und neun Jahren und das Kindermädchen erhängt. Die fünf waren nur mit Nachthemden bekleidet und infolge der Kälte bereits gefroren. Sie wirkten an ihren Stricken wie übergroße Puppen. Es sah nicht aus, als hätten die Frau, das Mädchen oder die Kinder sich gewehrt. Vermutlich hatte der Mann seine Opfer mit einem Schlafmittel betäubt, nacheinander auf den Boden getragen und mit erstaunlicher Präzision und Kaltblütigkeit aufgeknüpft. Vom Arbeitszimmer des Sturmbannführers aus rief der Nachbar die Polizei und einen Arzt herbei. Letzterer kümmerte sich zuerst um die inzwischen völlig apathische Frau, die Mutter des Kindermädchens. Die Ärmste hatte die Leichen gefunden. In der Rechten hielt sie einen Bettschuh.

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