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Die Witwe aus Betulia

I.

„Oh, Adonaj, du wirst wissen, warum mich noch immer keine Enkel umgeben“, murmelte der alte Meraris im Bethaus zu Betulia, einer kleinen Bergstadt am Rande der Ebene Jiz’reel. Wie an jedem Tag las er dort in den Heiligen Schriften und fast jeden Tag klagte er Gott diesen geheimen Kummer. Ein Sohn war ihm geschenkt worden, doch der Allmächtige hatte ihn früh wieder zu sich genommen. Geblieben war ihm nur die Tochter Jehudit. Sie führte den Haushalt, seit seine Frau auf dem ’Feld der Väter’ ihre letzte Ruhe gefunden hatte.

Das Mädchen war im heiratsfähigen Alter und niemand hätte Meraris daran gehindert, sie nach altem Brauch einem Mann zu versprechen, aber es lag nicht in seiner Absicht, der Tochter etwas aufzuzwingen. Wieder einmal ging er in Gedanken die Reihe der infrage kommenden Schwiegersöhne durch und fand, dass er sich eigentlich nur einen ganz bestimmten Mann für Jehudit wünschte. Doch Manasse, der Sohn seines toten Freundes Aaron, war leider mehr auf den großen Handelsstraßen als auf seinem Anwesen in Betulia anzutreffen.

Meraris streckte die schmerzenden Füße aus. Mit zunehmendem Alter stellten sich Beschwerden ein, deren Ursache weit zurücklag. Er klagte nicht darüber, denn Gott hatte damals die Hand in besonderer Weise über ihn gehalten. Dafür wollte er dieses Übel gern in Kauf nehmen. Ungezählte Menschen hatten auf dem grauenvollen Fußmarsch in die babylonische Gefangenschaft das Leben verloren. Was bedeuteten da schon diese Schmerzen?

Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück, in die Tage der jugendlichen Begeisterung für König Jehonjah. Willig überließ er sich den aufsteigenden Bildern ...

Der junge Meraris kannte jede Gasse und jeden Schlupfwinkel in Jerushalaim. Sein Vater, der ehrwürdige Uziah, ein Heilkundiger und Gelehrter, sah diese Streifzüge nicht gern. Er befürchtete, dass der Sohn den Händlern nur neugierig in die Körbe schaute.

Meraris und seine Freunde hatten jedoch Besseres zu tun. In der Stadt brodelte es. Der alte König Jehojakim hatte sich gegen den mächtigen babylonischen König Nabû-kudurri-usur aufgelehnt und die Tributzahlungen eingestellt. Die Folgen dieser Auflehnung stellten sich umgehend ein. Der erzürnte Herrscher schickte ein Heer nach Juda.

Das vergleichsweise kleine judäische Aufgebot war der Übermacht der Feinde, die wie ein Wüstensturm über das Land hereinbrachen, nicht gewachsen und wurde aufgerieben. Der klägliche Rest wich in Richtung Jerushalaim zurück.

Die Bewohner der umliegenden Ortschaften flohen vor dem chaldäischen Heer hinter die schützenden Mauern der Stadt.

Die Verweigerung des Tributs war die letzte törichte und zugleich folgenschwerste Entscheidung Jehojakims gewesen, denn nun war er tot und hatte seinem achtzehnjährigen Sohn und Thronfolger Jehonjah ein Land in Angst und Schrecken hinterlassen.

Meraris und seine Freunde bewunderten den Prinzen. Er war nur wenig älter als sie. Voll Ungeduld warteten sie darauf, einberufen zu werden, denn sie bezweifelten nicht, dass der junge König Jerushalaim gegen die feindliche Armee verteidigen werde.

Meraris war es gelungen, sich unbemerkt in den Königspalast zu schleichen und bis zum Ratssaal vorzudringen. Hinter einem schweren Wandvorhang verborgen, vernahm er mit Genugtuung, dass Jehonjah fest entschlossen war, sich Nabû-kudurri-usur nicht kampflos zu ergeben.

Die Räte allerdings waren geteilter Meinung, hielten sich aber zurück. Nur Jeremiah der Prophet, ein ständiger Mahner zur Vorsicht, hob entsetzt die Hände und widersprach dem König energisch.

Jehonjah blieb indes bei seinem Vorsatz. Er entgegnete dem Propheten schroff, es sei höchste Zeit, den für Juda unerträglichen Zustand der Unterwerfung zu beenden.

Über das Gesicht des edlen Mattanja huschte bei diesen Worten ein spöttisches Grinsen. Er war Jehonjahs Onkel, kaum älter als der junge König, und neidete seinem Neffen den Thron. Dessen Starrköpfigkeit erfüllte ihn mit sichtlicher Schadenfreude. Vermutlich wünschte er dem König eine Niederlage gegen Babylon, ganz gleich, wie sehr er selbst dadurch in Lebensgefahr geriet.

Der junge Meraris verließ seinen Lauschposten nur, weil Schritte sich dem Versteck näherten. Sein Vater war bei Hofe ein geschätzter Mann, er durfte ihn nicht in Misskredit bringen. Das aber wäre unweigerlich der Fall gewesen, sofern man ihn hier aufgriff.

Schon am nächsten Tag wurden alle wehrfähigen Männer zu den Waffen gerufen. Meraris und seine Freunde lernten in kürzester Zeit mit dem Speer ebenso gut wie mit Pfeil und Bogen umzugehen.

Jehonjah war gerade drei Monate König, als die Reste des geschlagenen Heeres in Jerushalaim eintrafen. Nur einen Tag später folgte die chaldäische Armee. Die Größe der anrückenden Streitmacht führte den Verteidigern der Stadt deutlich vor Augen, wie gering die Aussicht auf einen Sieg war. Bedrückung erfasste die Männer, doch sie waren entschlossen, bis zum Tod für ihren König und Juda zu kämpfen.

Der Feind griff die Stadt nicht an, er belagerte sie. Der Rauch der Lagerfeuer hing als unheilschwangerer Dunst über Jerushalaim.

Der Hohepriester Serajah rief zum Sühnopfer. Bei weit geöffneten Bronzetoren, die den inneren vom äußeren Hof trennten, vollzog er auf dem Altar die Opferhandlung. In beklemmender Stille stand die Menschenmenge im äußeren Tempelhof.

Seit langem waren die Jerushalaimer nicht mehr so einträchtig an diesem geheiligten Ort versammelt gewesen. König Jehojakim hatte sich mehr um die Ausstattung seines Palastes als um die Verehrung Gottes gekümmert. Seine Schwäche für den Baal-Kult und für heidnische Tänzerinnen war in den Kreisen der Edlen nachgeahmt worden und hatte auch im einfachen Volk zur Vernachlässigung religiöser Pflichten geführt.

Von seinem Posten auf der Stadtmauer überblickte Meraris den Tempelbereich. Sein geübtes Auge erkannte Jehonjah und neben dem König den Propheten Jeremiah.

Mit erhobenen Armen bat der Hohepriester den Herrn um Erbarmen und erflehte Hilfe gegen Babylon. Der Rauch des Brandopfers stieg jedoch nicht steil nach oben, er breitete sich als niedrige Wolke über der Menge aus und vernebelte das Bronze-Becken für die rituellen Waschungen – Gott nahm das Opfer nicht an!

Das Jammern der Menge drang bis zu den Männern herüber, die auf der Stadtmauer wachten. Es übertönte jedoch nicht den Lärm, der aus dem Lager der Chaldäer schallte. Der judäische Hauptmann, ein erfahrener Kämpfer, sagte leise, er befürchte für die kommende Nacht einen Angriff.

Meraris lief ein Frösteln über den Rücken. Es war eine Sache, über den Kampf zu reden und eine andere, tatsächlich zu kämpfen. Nach Ablauf seiner Wache verkroch er sich zum Schlafen in einen Winkel.

Irgendwann in der Nacht rüttelte ihn der Hauptmann wach und rief, er solle seine Haut retten, die Chaldäer seien in der Stadt, der König habe Jerushalaim kampflos übergeben.

Meraris stotterte, das könne er nicht glauben, denn zufällig wisse er, dass Jehonjah im Ratssaal vom ’Durchhalten bis zuletzt’ gesprochen habe.

Der Hauptmann knurrte wütend etwas über den Einfluss des Propheten auf den Herrscher und dass durch eine Übergabe das Blutvergießen nicht verhindert werden könne. Das sei nun mal so im Krieg, man müsse auch jetzt nur die Ohren aufsperren.

Er hatte recht: Angst- und Schmerzensschreie erfüllten die Gassen, vermischt mit rauen Rufen in einer fremden Sprache. Brände loderten überall und stinkende Rauchschwaden machte das Atmen schwer.

Die Männer auf den Wehrgängen fühlten sich vom König verraten und um einen ehrenvollen Tod gebracht. Sie blieben, wo sie waren. Niemand wollte zur Schmach der kampflosen Übergabe noch die der Feigheit vor dem Feind auf sich nehmen. Stumm erwarteten sie die Chaldäer.

Meraris musste sich sehr beherrschen, um den feindlichen Krieger, der ihn wenig später grob am Arm fasste, nicht wütend von sich zu stoßen. Als Gefangener wurde er dann mit vielen anderen durchs nächstliegende Tor aufs freie Gelände hinausgetrieben …

Es war Zeit, den Heimweg anzutreten. Meraris verriegelte die Tür des Bethauses.

Die alte Eselin begrüßte ihn misstönend, als er den kleinen Vorhof des Hauses betrat. Dort wurde er bereits von seiner Tochter Jehudit erwartet. „Du warst lange im Bethaus, Vater. Es ist längst Zeit für das Abendessen.“ Die Stimme des Mädchens klang besorgt und vorwurfsvoll.

Meraris gestand, dass ihn wieder einmal die alten Geschichten überkommen hätten. Damit sie Ruhe gäben, sei es wohl an der Zeit, sie aufzuschreiben. Er wusch sich die Hände im Wasserbecken, trat an den Tisch im Wohnteil des Hauses, auf dem Jehudit das einfache Mal vorbereitet und die Öllampen entzündet hatte, und betete laut: „Erbarme dich, Adonaj, über Israel, über Jerushalaim, deine Stadt, über Zion, die Stätte deiner Herrlichkeit, und tröste uns. Gelobt seist du, Ewiger, der du Jerushalaim in deinem Erbarmen erbaut hast“, und er fügte dem alten Gebet hinzu, „und wieder erbauen wirst.“

Seit Jahrzehnten lag die einst stolze Stadt nun in Trümmern. Der Tempel Salomos war nur noch ein Haufen Steine und ein Teil des Volkes befand sich in Gefangenschaft. Wann würde diese Prüfung ein Ende haben?

Meraris griff nach dem Brotfladen, teilte ihn und fragte, was es Neues in Betulia gäbe.

Das Licht der Öllampen spiegelte sich in Jehudits dunklen Augen. Glattes, schwarzes Haar fiel ihr über Rücken und Schultern, von einem Band aus der Stirn gehalten. Ein Bildhauer wäre von der Ebenmäßigkeit ihres Gesichtes und ihrer Schönheit beeindruckt gewesen.

Sie schenkte dem Vater mit Wasser vermischten Wein ein und antwortete lächelnd: „Was geschieht schon in Betulia? Rebecca hat mich besucht und sich über Jeshua beklagt. Er macht Ärger im Torah-Unterricht. Rabbi Eliah hat sich über sein mangelndes Wissen beschwert. Außerdem stecke der Bursche voll absonderlicher Ideen und könne nicht stillsitzen, sagt er.

Ich denke, der Rabbi ist für seine Schüler inzwischen zu alt. Sein Gehör hat in letzter Zeit stark nachgelassen. Finden die Ältesten nicht jemand, der ihn unterstützen oder vielleicht sogar ablösen könnte? Jeshua kommt jedenfalls von morgen ab täglich eine Stunde zu mir zum Nachhilfeunterricht.“

„Seit wann weißt du, eine Frau, wie man die Torah lehrt?“, fragte Meraris erstaunt.

„Ich habe mich als Kind regelmäßig vor dem Bethaus aufgehalten, wenn der Rabbi unterrichtete. Er war gut zu verstehen, denn er brüllte schon damals wie ein Löwe“, erwiderte Jehudit. „Außerdem hast du mich auch nicht nur Lesen und Schreiben gelehrt.“

Meraris strich sich den Bart. Der Vergleich erheiterte ihn. Eliah hatte so gar nichts von einem Löwen an sich, er sah eher einem Geier ähnlich. Dass Jehudit den Unterricht erwähnte, den er ihr erteilt hatte, erfüllte ihn mit Freude. Er hatte ihr alles vermittelt, was er wusste, und das war nicht wenig. Im Haus des ehrwürdigen Uziah zu Jerushalaim war der Bildung große Bedeutung beigemessen worden. Dieser Umstand und ein langjähriges Zusammensein mit dem Propheten Jeremiah hatten Meraris nach seiner Rückkehr aus Babylon in die Lage versetzt, sich den Lebensunterhalt als Schreiber zu verdienen. Weil er auch die babylonische Sprache in Wort und Schrift beherrschte, hatte es ihm nie an Aufträgen gemangelt. Bis von Bet She’an und Bet Lechem waren die Leute zu ihm gekommen.

Das lag nun schon eine Weile zurück. Seit der Beendigung seiner Tätigkeit als Schreiber herrschte Stille im Haus, sofern nicht Jehudits Freundinnen zu Besuch kamen. „Ich freue mich, dass mit Jeshua wieder Leben ins Haus einzieht“, sagte er laut.

Zu dieser Bemerkung schwieg Jehudit. Auch wenn der Vater ihr gegenüber nie ein Wort verlauten ließ, sie kannte seinen Kummer. Unter ihren Freundinnen war sie die Einzige, um die noch kein Mann angehalten hatte.

Ihr bereitete das wenig Sorgen. Sie war zwar schon achtzehn Jahre alt, aber der Richtige würde kommen, genau genommen gab es ihn schon. Sie hoffte nur, dass ihm dies auch klar genug war, denn bislang hatte er nicht um ihre Hand gebeten.

Über die Ehen ihrer Freundinnen gab es manches zu sagen. In einer kleinen Stadt wie Betulia blieb nichts verborgen. Sie wusste, dass einige unglücklich waren, andere hatten sich eingerichtet, so gut es ging. Lediglich Rebecca und Lea, die beide um einige Jahre älter waren als sie, liebten ihre Männer und waren trotz Unterordnung glücklich. Es stand ja im Gesetz geschrieben, eine Frau sei dazu berufen, dem Haushalt vorzustehen, ihrem Mann zu dienen und Kinder zur Welt zu bringen. Auch Jehudit hatte im Grund an diesen Forderungen nichts auszusetzen, sofern der zukünftige Ehemann nicht allzu sehr auf der Unterordnung bestand. Und der, an den sie dachte, war gewiss nicht von dieser Art.

Sie gab dem Gespräch eine unverfänglichere Wendung. „Der ehrwürdige Osias hat am Nachmittag einen Boten geschickt“, sagte sie. „Für morgen früh ist eine Beratung der Ältesten angesetzt. Es geht um die Ausbesserung der Zisterne.“

Meraris nickte und bemerkte, die Zisterne sei schon Gegenstand einer Beratung gewesen. Damals hätten sie sich geeinigt, zuerst das Stadttor zu erneuern.

„Ihr solltet noch einen zweiten Wasserspeicher anlegen“, riet Jehudit. „Wenn es lange nicht regnete, hatten wir hier oben stets Wassermangel. Außerdem sind die Zeiten unsicher. Die Quelle am Fuß des Felsens ist für Feinde leicht zu finden.“

Meraris pflichtete der Tochter bei. Er breitete die Sorgen des Ältestenrates gern vor ihr aus. Jehudit war verschwiegen und hatte ihm schon manch guten Gedanken für die Beratungen geliefert.

Nach dem Mahl tauchte er die Füße ins Wasserbecken, das im Küchenteil in den Boden eingelassen war. Diese Fußwaschung gehörte nicht nur zum Ritual vor der Nachtruhe, sie verschaffte ihm zugleich Schmerzlinderung.

Jehudit leuchtete dem Vater in die Schlafkammer hinauf, half ihm, das Obergewand abzulegen, und deckte ihn mit dem Schaffell zu. Ehe sie sich selbst zur Ruhe legte, sicherte sie die Glut der Herdstelle und löschte die Öllampen.

Meraris fand keinen Schlaf. Seine Gedanken kehrten zurück zu dem jungen Mann, der er einmal gewesen war und auf den er nun wie vom Dach seines Hauses herabschaute.

Da lagen sie auf dem ausgedörrten Feld vor der Stadtmauer und harrten der Dinge, die kommen würden. Von der Stadt zog stinkender Qualm herüber. Die Sieger plünderten und brandschatzten. Der Lärm war bis ins Lager zu hören.

Meraris hielt vorsichtig Umschau. Die Wächter hockten um ein prasselndes Feuer und würfelten um erbeutete Wertsachen. Er flüsterte seinem Hauptmann zu, er müsse in die Stadt zurück.

Der Mann hob erstaunt den Kopf und warnte den Burschen, dass sein Leben hin sei, wenn die Chaldäer ihn beim Fliehen ertappten. Meraris legte ihm Abschied nehmend die Hand auf die Schulter und robbte vorsichtig aus dem Lichtkreis des Feuers.

Es dauerte, ehe er sich zwischen den Gefangenen hindurch und an weiteren Wachen vorbei bis an den Rand des Lagers vorgearbeitet hatte. Im Schutz der Stadtmauer kam er schneller voran, hier kannte er jeden Handbreit Boden. Ein paar Faden weiter links gab es eine Stelle, an der sie als Jungen ihre Mutproben ausgeführt hatten – Abstieg von und Aufstieg an der Stadtmauer.

Während Meraris nach einem bestimmten Vorsprung tastete, den Fuß darauf setzte und gleichzeitig mit geübten Händen nach einer vertrauten Fuge über seinem Kopf griff, dachte er daran, dass sie diese halsbrecherische Kletterei niemals nachts gewagt hatten. Er schickte einen Blick nach oben in die Dunkelheit – die vertraute Mauerkrone war nicht auszumachen. Also schloss er die Augen und verließ sich völlig auf den Tastsinn. Als seine Hand endlich den oberen Rand der Mauer fühlte, hätte er am liebsten, wie in alten Zeiten, einen Siegesschrei ausgestoßen.

Vorsichtig lugte er über den Rand. Die breite Mauerkrone schien leer zu sein. Rasch zog er sich auf den Sims hinauf und blieb eine Weile schwer atmend liegen. Dann sprang er in den Wehrgang hinunter und schlich zum Abstieg.

In der dunklen Gasse stolperte er bereits nach wenigen Schritten über einen Toten. Den nächsten bemerkte er rechtzeitig. Plötzlich hörte er Stimmen. Geistesgegenwärtig verbarg er sich hinter einem Hausvorsprung. Aus dem Gebäude gegenüber traten beladene Chaldäer. Sie achteten auf nichts anderes als auf ihre Beute. Meraris schlich weiter.

In der nächsten Gasse brannte ein Haus. Wenn er in den Lichtkreis des Feuers trat, konnte er gesehen werden. Ein mattes Glänzen vor ihm weckte seine Aufmerksamkeit – der Helm eines toten Chaldäers. Jemand hatte dem Krieger die Kehle durchschnitten.

Meraris schleifte den Leichnam in die Dunkelheit, nahm ihm Brustpanzer, Helm und Schuhe ab und entledigte sich der eigenen Bekleidung, die ihn als Judäer kenntlich machte. Es widerstrebte ihm, in die Rüstung des Feindes zu schlüpfen, aber er hatte keine Wahl.

Tatsächlich erreichte Meraris das Haus seines Vaters, ohne von Chaldäern behelligt zu werden. Die Tür zum Vorhof stand offen. Gleich dahinter stieß er mit dem Fuß an einen Kochkessel, der scheppernd über den gepflasterten Boden rollte.

Im Haus rührte sich nichts. Behutsam schloss Meraris die Türflügel und schlich zum Küchenraum. Auf der Feuerstelle glomm unter der Asche noch ein wenig Glut. Er tastete nach den Holzspänen, fand sie an der gewohnten Stelle und entfachte ein Feuer. Nun überblickte er das Ausmaß der Verwüstung – geborstenes Geschirr, verstreute Vorräte, zerschlagene Gerätschaften. Er entdeckte eine heil gebliebene Öllampe und schritt in ihrem Schein von Raum zu Raum. Überall die gleiche Verwüstung!

Schließlich stieg Meraris ins Obergeschoss. Hier befanden sich der Schlaf- und Arbeitsraum seines Vaters.

Tonscherben und zerrissene Papyri bedeckten den Fußboden – die Überreste der umfangreichen Bibliothek, auf die der ehrwürdige Uziah so stolz gewesen war. Ein Wunder, dass die Plünderer das Haus bei so viel vorhandenem Papyrus nicht angezündet hatten!

Aus dem Schlafraum des Vaters vernahm Meraris Stöhnen. Gleich neben der Tür lag ein Mensch. Er setzte die Lampe ab, kniete nieder und erkannte Hannah, die dem Vater seit Jahren den Haushalt führte. Die alte Frau lag zusammengekrümmt auf der Seite und blutete aus einer Brustwunde. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie atmete noch. Meraris ergriff ihre schlaffe Hand und rief sie beim Namen. Hannah erkannte ihn an der Stimme, war aber nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen. Mühsam hauchte sie ’Chaldäer’ und nach einer langen Pause ’dein Vater’. Er hielt das Ohr dichter an ihren Mund und glaubte noch ‘Palast’ zu verstehen. Gleich darauf hörte Hannah auf zu atmen.

Meraris trug die Tote auf das Ruhebett. Mehr konnte er für sie nicht tun, die Lebenden hatten Vorrecht. Er hoffte sehr, seinen Vater im Königspalast zu finden.

Auf dem Weg dorthin griff er sich noch Schild und Streitaxt eines toten Chaldäers. Den Palasthof wagte er dennoch nicht zu betreten. Sicherlich hatten die chaldäischen Wachen ein Losungswort und er war nicht einmal ihrer Sprache mächtig. Zum Glück blieb ihm der Schleichweg in den Palast, der allerdings nicht in den Hof, sondern in den Ratssaal führte.

Wie wenige Wochen zuvor, verbarg er sich wieder hinter dem Wandteppich und beobachtete das Geschehen durch den Spalt zwischen Gewebe und Säule.

Diesmal saß auf dem Thron ein Mann, mehr als doppelt so alt wie König Jehonjah. Er trug einen Brustpanzer aus gehämmertem Gold und einen ebensolchen Helm. Das markante Gesicht wurde von schwarzem, gelocktem Haar umrahmt.

Meraris kannte dieses Haupt. Er hatte es auf einer Münze gesehen: Auf dem Thron saß Nabû-kudurri-usur, der König von Babylon.

Blitzartig wurde ihm klar: Dieser Mann verkörperte eine Weltmacht. Er hatte Jehonjah, den unerfahrenen judäischen König, wie ein Staubkorn beiseite gefegt. Zu Meraris’ Bestürzung wollte sich kein Hassgefühl einstellen. Er  fühlte für den Babylonier viel eher widerstrebende Bewunderung.

Im Saal befanden sich außer Nabû-kudurri-usur und dessen Leibwache auch König Jehonjah, die Räte und der Prophet Jeremiah.

Der Babylonier sprach ...

 Erstaunt stellte Meraris fest, dass der Herrscher des Hebräischen mächtig war. Er sagte, Jehonjah und die Räte hätten das, was geschehen sei, selbst zu verantworten. Sich ihm zu widersetzen, ziehe in der babylonischen Rechtsprechung die Todesstrafe nach sich. Meraris begriff, dass er Zeuge einer Gerichtsverhandlung wurde und dass Nabû-kudurri-usur soeben im Begriff war, das Urteil zu verkünden.

Der Babylonier sprach von Gnade und von Gefangenschaft statt Tod. Judas König, dessen Krieger, die Edlen des Hofes und die Handwerker der Stadt würden nach Bab-Ilu geführt. Dort und in anderen Städten des Reiches sollten sie bis zu ihrem Tod im Dienst Babylons leben.

Was Nabû-kudurri-usur verkündete, war für die Edlen schlimmer als ein Todesurteil. König Jehonjah stand wie versteinert. Die Räte senkten von Scham und Wut erfüllt das Haupt. Jeremiah jedoch wagte es, unaufgefordert das Wort zu ergreifen.

„Erhabener“, begann er vorsichtig und sprach weiter, als der Babylonier kein Zeichen von Unwillen erkennen ließ,  „Wir können nichts zu unserer Entschuldigung vorbringen. Doch wenn der König und die Edlen in die Gefangenschaft geführt werden, wer leitet dann die Zurückbleibenden? Wie willst du in kommenden Jahren Abgaben erhalten, wenn Recht und Ordnung nicht gewährleistet sind?“

Nabû-kudurri-usur antwortete mit unbewegtem Gesicht, darüber solle sich der Ehrwürdige keine Gedanken machen. Er werde einen neuen König einsetzen und den dürfe Jeremiah dann beraten.

Die Räte blickten einander bestürzt an. Ein König von Nabû-kudurri-usurs Gnaden?

Der babylonische Herrscher schien das ungläubige Entsetzen zu genießen. Er ließ Mattanja vortreten.

Der Onkel Jehonjahs eilte zum Thron und verneigte sich unterwürfig. „Erhabener!“, setzte auch er an, doch Nabû-kudurri-usur hieß ihn schweigen. Kurz und bündig ernannte er Mattanja zum König, nicht anders als erteile er einen belanglosen Auftrag. Dann befahl er ihm, vor den Edlen und unter Anrufung seines Gottes Jahwe, Babylon treue Gefolgschaft zu schwören.

Ohne Zögern wiederholte Mattanja: „Erhabener Herrscher, ich schwöre dir im Angesicht des Ewigen die Treue!“

Um den Mund Nabû-kudurri-usurs spielte ein geringschätziges Lächeln. Was der neue König soeben unter dem Namen Mattanja geschworen habe, sagte er, das solle er unter dem Namen Zedekia – ’Gott ist meine Gerechtigkeit’ – noch einmal wiederholen. Dieser neue Name werde ihn an den Schwur erinnern, den er im Namen seines Gottes geleistet habe, denn Gerechtigkeit werde ihm spürbar widerfahren, sobald er es wage, sich gegen Babylon aufzulehnen. Mattanja schwor erneut.

Peinlich berührt senkten die Räte den Blick. Nabû-kudurri-usur hatte den Onkel Jehonjahs wie ein bunt geschmücktes Kamel auf dem Basar vorgeführt.

Der eitle Mattanja ein König! Angesichts dieses Übels vergaß Meraris beinahe, dass er hier war, um seinen Vater zu suchen und dass er in großer Gefahr schwebte, durch die chaldäischen Wachen entdeckt zu werden.

Gerade wollte er den Lauschposten verlassen, da hörte er Nabû-kudurri-usur sagen: „... Ehrwürdiger, weil du es bist. Aber du hast nicht viel Zeit.“

Meraris lugte erneut durch den Spalt: Bewaffnete Chaldäer führten den neuen König und die Edlen ab. Auch der babylonische Herrscher verließ den Saal. Dort standen sich nun Jeremiah und König Jehonjah allein gegenüber.

„Wir hätten kämpfen und sterben sollen, dann hätten wir uns diese Schmach erspart“, sagte Jehonjah vorwurfsvoll. „Nun siehst du die Folgen, Ehrwürdiger.“

„Deine Entscheidung, die Stadt kampflos zu übergeben, war weise, mein König“, widersprach Jeremiah. „Was geschehen ist und geschehen wird, geschieht mit Gottes Willen. So fallen die Sünden der Väter und die eigenen auf uns zurück. Dein Vater hielt sich nicht an Gottes Gesetze, er verkehrte mit Huren und die Edlen taten es ihm gleich. Er presste das Volk aus wie einen feuchten Schafskäse, um diesen Palast immer größer und schöner auszubauen. Er beugte das Recht. Ich habe gewarnt und gemahnt, aber er hat meinen Rat nie befolgt, den Gesichten, die mir Gott schickte, nicht geglaubt. Zu meinen schrecklichsten Bildern gehörten die, in denen der Feind aus dem Norden mit Übermacht auf unser Volk hereinbrach und es in die Sklaverei verschleppte. Nun ist die Prophezeiung eingetroffen. Dein Vater hätte das Übel aufhalten können, wenn er Babylon weiterhin Tribut gezahlt hätte.“

„Warum fällt es dir nur so leicht, dich dem Feind zu unterwerfen?“, fragte Jehonjah bitter.

„Ich unterwerfe mich nur dem Allmächtigen“, antwortete Jeremiah ernst. „Er steht über Nabû-kudurri-usur. Du wolltest kämpfen und sterben. Deine Soldaten mögen dir beipflichten, aber wie steht es mit den Alten, den Frauen und Kindern? Den meisten von ihnen hast du durch den Verzicht auf einen aussichtslosen Kampf heute Nacht das Leben erhalten ...“

„…das viele durch Hunger, Durst und Entkräftung auf dem Weg in die Gefangenschaft verlieren werden“, fiel ihm Jehonjah ins Wort.

Meraris sah Jeremiah an, dass dieser des Königs Befürchtung teilte. Dennoch versicherte der Prophet, Gott werde alles zum Guten lenken. Letztlich sei auch die Herrschaft des unfähigen Mattanja Teil seines göttlichen Planes.

„War ich denn fähiger als mein Onkel?“, fragte Jehonjah düster. „Ich habe auch alles falsch gemacht.“

„Du hast Fehler gemacht, mein König“, berichtigte Jeremiah. „Dafür gehst du mit deinem Volk in die Gefangenschaft. Solange jedoch Judas König seinem Gott in der Fremde treu bleibt, solange ist das Volk nicht ohne Führung, denn …“

Der Prophet hielt inne – die chaldäische Wache war eingetreten, die Zeit abgelaufen. Er verneigte sich ein letztes Mal vor seinem König. „Behalte den Herrn fest in deinem Herzen“, sagte er feierlich.

Als die Wache Jehonjah hinausführte, setzte er kaum hörbar hinzu: „Denn auch du wirst in Babylon sterben.“

Meraris überlegte fieberhaft: Es gab für ihn nur eine Möglichkeit, in den Hof des Palastes zu gelangen – mit dem Propheten. Er nahm den Helm ab, trat hinter dem Vorhang hervor und raunte, er sei kein Chaldäer, sondern der Sohn des heilkundigen Uziah und suche seinen Vater.

Ohne ein Anzeichen der Verwunderung über Meraris’ Verkleidung erwiderte Jeremiah, Uziah sei tot, er werde ihn zum Leichnam des Vaters führen. Die Wachen im Hof beachteten den Propheten nicht, der von einem ’Chaldäer’ begleitet wurde …

Als Meraris erwachte, war die Morgendämmerung angebrochen.

Er erhob sich von seinem Lager und stieg zum Gebet auf das Dach des Hauses.

Jehudit hörte das Knarren der Stiege und bereitete im Küchenraum das Mahl vor. Später aßen sie schweigend. Meraris überdachte bereits den Vorschlag, den er im Rat vorbringen wollte.

Früher als notwendig machte er sich auf den Weg.

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