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WOHIN DU GEHEN WIRST -
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IE ABSCHLUSSPRÜFUNG / DER KRIEGSHELD

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Am Ende dieses Schuljahres gehörten Else und Alfred zu den ’Gepiesackten’. Lehrer Richter war ein zweites Mal vom Frontdienst zurückbeordert worden. Er ergriff die Gelegenheit und hielt mit der Tochter des Obersteigers Hochzeit. Vor dem Krieg wäre dies ein Ereignis für das gesamte Dorf gewesen, jetzt aber nahm kaum einer davon Notiz, jeder war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Nur die Schulkinder standen vor der Kirche Spalier.

Eine Woche nach der Hochzeit begann Richters regulärer Dienst in der Schule und eben das war der Prüfungstag. Ein letztes Mal sprach er jetzt den verzagten Schülern Mut zu. Alfred hatte Zuspruch nicht nötig, er war guter Dinge. „Wenn ich mit Klau’n drankomme, weeß ich, was ich saache“, verriet er Else.

Nach Pastor Redlichs Ansicht war es für den beschränkten Burschen jedoch wichtiger, dass er vor der himmlischen Obrigkeit Respekt empfand und deshalb verlangte er: „Kluge, erzähl uns mal etwas über das zweite Gebot.“

Alfred legte bedauernd den Schalter seines Wissensspeichers in Religion von Gebot sieben auf Gebot zwei um, was einige Zeit beanspruchte. Schließlich musste er ja Kunzes Kuh, die er gedanklich bereits geklaut hatte, wieder in den Stall treiben. Die Zuhörerschaft der Großmütter und Tanten im Hintergrund tuschelte eifrig.

„Alfred!“, half Lehrer Neuhaus nach. „Das zweite Gebot beginnt mit den Worten …?“

Die Kuh war endlich im Stall und nun leuchtete das glitzernde Zeichen für ’Gott’ im Speicher auf.

Alfred schnurrte los: „Du sollst den Namen deines Gottes nicht unnütz im Munde führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.“ 

„Und was heißt das?“, wollte Pastor Redlich wissen.

Nun hätte ein weiterer feststehender Text folgen sollen, aber den sparte sich Alfred. Da kam er immer mit den Worten durcheinander. Deshalb sagte er gleich: „Das heeßt, ’Gottverdammich’ derf ich nich saach’n und ’du kannst mich mal kreuzweise’ ooch nich. Hawwich ooch noch nie. Es gibt ja andre Flüche wie ’Verdammte Scheiße’ oder ’Scher dich zum Teufel’ oder ’Verfluchte Sauerei’ oder …“

„Es reicht, Alfred, es reicht“, stoppte Lehrer Neuhaus die delikate Aufzählung, denn die Großmütter- und Tantenschar im Hintergrund stand kurz davor, dem Prüfling weitere gottesnamenfreie Flüche zuzuflüstern. „Erzähl mir lieber mal, bei welcher Gelegenheit du den Namen Gottes aussprichst. Und wenn es geht, in vernünftigem Deutsch.“

Alfred legte innerlich seufzend den Sprachschalter um. Nun musste er auch noch auf seine Zunge aufpassen. „Kann ich Lieder nehm’?“

„Sprechen und singen sind eins“, bestätigte Neuhaus nickend.

„Also singen: ’Ein’ feste Burg ist unser Gott’ oder ’Was Gott tut, das ist wohlgetan’ oder ’Verleih uns Frieden gnädiglich’ und sprechen … “ Alfred überlegte und verkündete dann strahlend: „Oh Gott, das Brot ist schon wieder alle oder um Gottes willen, mach keine Dummhee … Dummheiten!“ Dann heftete er den Blick auf Lehrer Richter, der ihn wohl am besten verstand, und sagte düster: „Oder Gott sei Dank, heute haben mich Kunze und Weidauer nich verprügelt.“

Im Schulraum blieb es still. Alfreds kurzer Satz war beeindruckender gewesen als Pastor Redlichs lange sonntägliche Moralpredigten. Die vor der Naundorfer Großmütter-Tanten-Öffentlichkeit so unversehens bloßgestellten Tunichtgute zogen die roten Köpfe ein und wünschten sich in ein Mauseloch hinein.

„Gottes Mühlen mahlen in der Regel langsam, aber das war eine volle Umdrehung“, dachte Lehrer Richter und senkte den Kopf, damit keiner das Grinsen bemerkte. „Gut gemacht, Kluge!“, lobte er.

Beim Lesen tat sich Alfred schwer, weshalb Kunze und Weidauer hämisch grinsten, aber das ’Heidenröslein’ sagte er fehlerlos auf und beim Rechnen schien in seinem Kopf eine Registrierkasse zu klappern. Als er sich endlich setzen durfte, leuchteten seine zu groß geratenen Ohren wie Glut im Küchenherd. Die Leistungen von Weidauer und Kunze übertrafen die Alfreds nur im Lesen. In Religion, im Rezitieren und Rechnen krochen die Dorfrabauken dagegen mühsam auf dem Bauch ins Ziel.

Else schlug sich tapfer und war auch nicht aus der Ruhe zu bringen, als Redlich sie mit dem sechsten Gebot plagte. Auf seine Frage, was das bedeute, ’Du sollst nicht ehebrechen’, antwortete sie mit der feststehenden Erklärung: ’Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir keusch und zuchtvoll leben in Worten und Werken und in der Ehe einander lieben und ehren’  und fügte sofort in steifem Hochdeutsch hinzu: „Wenn aber einer den andern nicht unterstützt und wenn einer säuft, ist Lieben und Ehren ganz schön viel verlangt.“ Die Großmütter und Tanten im Hintergrund spitzten die Ohren: So sah es also bei den Stehaufs aus!

„Wer Gott liebt, dem ist auch das möglich“, tönte Pastor Redlich salbungsvoll. „Deshalb steht das ja am Beginn der Erklärung.“

„Ja, ja! Das haben Sie uns schon im Konfirmandenunterricht gesagt“, erwiderte Else. „Aber wenn einer das trotzdem nicht schafft, ist er deshalb nicht schlecht. Ich find’ es nur beschiss …“, sie verbesserte sich eilig, „ich find’ es schlimmer, wenn einer fremd geht, weil die Frau krank ist oder ein Kind kriegt oder einfach so aus Geigel. Denn das ist nicht zuchtvoll, wie die Erklärung es verlangt.“

Sieh einer an! Die Naundorfer Altweiblichkeit warf sich bedeutsame Blicke zu. Jetzt bezog sich das Mädchen auf den Dorfklatsch. Die Kinder kriegten eben mehr mit als man annahm.

„Das lasse ich gelten“, sagte Pastor Redlich aus irgendeinem Grund verlegen und Else wurde nun in den anderen Fächern geprüft. Es lief recht gut bis aufs Rezitieren – sie hatte es nicht so mit Gedichten. Schließlich war auch das überstanden und aufatmend nahm sie ihren Platz ein. Nie wieder würde sie in dieser Schule irgendwelche Fragen beantworten müssen. Aber was kam nun? Mädchen wie sie wurden Mägde oder fanden, wenn sie Glück hatten, eine Stellung in der Stadt. „Selbst Alfred weeß schon, was ihm blüht“, dachte Else. „Der wird Lehrling beim Brömme-Schmied. Meine Fresse! Da halten sich die Pferde die Bäuche, wenn Alfred den’ die Hufe beschlägt.“


Wie nahe Tod und Gelächter selbst im Krieg beieinander lagen, zeigte sich an einem Sonntag Ende Juni 1916. Die strickenden und singenden Kriegshilfe-Frauen saßen in trauter Gemeinsamkeit beieinander, als sich die Tür öffnete und ein schmucker Matrose in den kleinen Saal des ’Adler’- Gasthofes  marschierte. „Hans Hessler, wo kommst’n du her?“, rief ein Mädchen.

„Direkt aus dem Lazarett“, antwortete der Matrose.

„Aber wo warst’n, als hier mobil gemacht wurde?“

„In der Grube ’Naumburg’. Dorthin bin ich doch gewechselt. Und nun dacht’ ich, ich besuch’ euch, wenn ich schon mal hier bin.“

Die Kunze-Bäuerin rückte einen Stuhl in die Runde, schob ein Tischchen davor und bat den Kriegshelden, Platz zu nehmen. Das tat der Matrose gern, vertilgte mit Appetit selbstgebackenen Kuchen samt Gerstenkaffee und ließ anschließend ein großes Glas Bier nachlaufen, das der Adler-Wirt bereitwillig spendierte. Nachdem er unter den aufmerksamen Augen der Naundorfer Weiblichkeit seinen Heldenleib gestärkt hatte, wurde er aufgefordert, die Rechnung für gehabte Gaumenfreuden in Gestalt einer Kriegserzählung zu begleichen, worum sich der gute Hans auch nicht lange bitten ließ. Eigentümlicherweise verfiel er dabei jedoch in ein verkrampftes Hochdeutsch. „Am einunddreißigsten Mai stachen wir mit einhundertzwölf Schiffen von Wilhelmshaven aus in See, um ein britisches Kreuzergeschwader in der Nordsee anzugreifen. Nachmittags stieß die deutsche ’Elbing’ am Skagerrak auf die britische ’Galatea’ …“

Hans machte eine wirkungsvolle Pause.

„Na … und?“, drängten die Strickerinnen im Chor.

„Na, die Briten war’n im Handumdreh’n erledigt.“ Hans war wieder in den Dialekt gerutscht und gebärdete sich, als habe er die ’Galatea’ eigenhändig in den Grund des Skagerraks gerammt.

„Tapfere deutsche Matrosen!“, bemerkte die dürre Weidauerin und fing eine abgerutschte Masche wieder ein.

„Aber dann rückte das gesamte britische Geschwader an“, stelzte Hans weiter, als lese er einen Text. „Ich versah meinen Dienst auf der ’Frauenlob’ und unsere sechzehn Großkampfschiffe gingen sofort zum Angriff auf die achtundzwanzig Schiffe der Briten über.“

Hans holte eine zerknitterte Postkarte aus der Bluse, auf der die ’Frauenlob’ abgebildet war, ließ sie herumreichen und referierte derweil weiter. „Wir kämpften bis in die Nacht hinein und fügten dem Gegner empfindliche Verluste zu.“

„Tapfere deutsche Männer!“, bemerkte die Weidauerin und nahm Maschen für den Fußteil der Socke auf.

„Und was musstest du uff’m Schiffe mach’n?“, fragte das junge Mädchen, das ihn begrüßt hatte, und warf dem tapferen Seehelden einen bewundernden Blick zu. Hans antwortete mit einem Anflug von Tragik in der Stimme, er habe eine der Schnellfeuerkanonen bedient. „Das Überleben der Kanoniere ist stets gering, wenn das Schiff vom Gegner getroffen wird.“ Umständlich, weil hochdeutsch, schilderte er, was er angeblich alles getan hatte, um dem Feind richtig beizukommen und holte dann zum Höhepunkt aus: „Plötzlich gab es einen Knall! Ich hatte das Gefühl, erst zusammengepresst, dann auseinandergerissen zu werden und danach weiß ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Lazarett und mein Arm war von oben bis unten verbunden.“ Verschämt zog Hans den Ärmel seiner Marinebluse ein wenig hoch und ein weißer Verband kam zum Vorschein.

„Standhafter deutscher Bursche!“, sekundierte die Weidauerin und prüfte an einer fertigen Socke, wie viel sie an der unfertigen noch zu stricken hatte.

Die Postkarte war inzwischen wieder bei Hans angelangt. Er steckte sie ein, während er traurig lächelnd sagte: „Meine Erinnerung kam bald wieder. Ich fragte nach meinen Kameraden und erfuhr, dass die ’Frauenlob’ in jener Nacht geborsten und gesunken war und man nur mich wie leblos aus den Fluten geborgen hatte. Ihr seht also hier den einzigen Überlebenden eines deutschen Kriegsschiffes.“

Wer bis zu diesem Punkt noch gestrickt hatte, ließ die Nadeln in den Schoß fallen und klatschte wie die  anderen Beifall. Während der Held zu den Resten von Kaffee und Kuchen zurückkehren durfte, tuschelten die Frauen miteinander. Dann ergriff die Weidauerin eine fertige Socke und machte damit die Runde. Es klimperte und klingelte und im Fußteil der Socke bildete sich eine größere Beule. Hans schien es nicht zu bemerken, schnippte ein paar Kuchenkrümel vom weiß-blauen Matrosenkragen und sagte: „Ich muss dann mal wieder geh’n, weil – meine Mutter wartet heeme und’s geht mir ooch noch nich so gut.“

Mit feuchtem Mutterauge erklärte die Weidauerin, sie wüssten leider kein passendes Seemannslied, um es für ihn zu singen, aber er solle dafür dieses kleine Geschenk annehmen. Dabei reckte sie ihm die ausgebeulte und die dazu passende, nicht ausgebeulte Socke hin. Hans Hessler widerstand der Versuchung, nur nach der ausgebeulten zu greifen, nahm beide und zog sich unter den besten Wünschen der Frauen für seine völlige Genesung im Rückwärtsgang aus dem kleinen Saal zurück. Unter dem Eindruck der Schilderung der großen Seeschlacht eilten die Naundorfer Frauen und Mädchen nach Hause.

Obersteiger Schulte hörte sich erst staunend, dann grinsend an, was seine Frau erzählte. „Da bringt der angebliche Kriegsheld Entscheidendes durcheinander“, spottete er. „In der Seeschlacht vor Helgoland 1914 wurde wirklich nur ein Mann gerettet, aber von der versenkten ’Cöln’. Die ’Frauenlob’ ging zwar auf gleiche Weise im Skagerrak unter, aber gerettet wurden, wenn ich richtig gelesen habe, acht Matrosen. Der Kerl hat euch einen gewaltigen Bären aufgebunden.“

„Das kann nicht sein“, widersprach seine Frau. „Er schilderte den gesamten Kampf.“

„Hessler kann auch lesen“, sagte der Obersteiger trocken. „Die Zeitungen waren voll von Berichten. Oder er ist vielleicht auf einen der acht gestoßen, der wirklich dabei war. Glaub mir, der Kerl ist ein Schwindler. Als er in die Grube ’Naumburg’ wechselte, wurde ich beauftragt, für ihn eine Beurteilung zu schreiben. Bei dieser Gelegenheit erhielt ich Einsicht in seine näheren Lebensumstände. Er kann nicht zur See gefahren sein, weil er vor Jahren bereits unehrenhaft aus dem Heer entlassen wurde. Es gab da eine Betrugsgeschichte. Wer weiß, wie viele Dörfer der Umgegend der Kerl mit diesem Märchen vom einzigen Überlebenden schon abgeklappert hat.“

Die Kunze- und die Weidauer-Bäuerin erfuhren den Reinfall gleich am nächsten Morgen von der Frau des Obersteigers. Bereits am Nachmittag wusste das gesamte Dorf Bescheid. Bei seiner Mutter war Hans Hessler nie auf- mit der vollen und der leeren Socke allerdings erfolgreich untergetaucht. Lehrer Neuhaus kam aus dem Lachen nicht heraus, als seine Frau die Geschichte mit nach Hause brachte. „Siehst du!“, rief er prustend. „Siehst du! Das ist ein Beispiel dafür, dass sich auch mit einem untergegangenen Schiff noch erfolgreich eine Schlacht in der Heimat schlagen lässt. Das muss in die Naundorfer Chronik.“ Er machte sich sofort Notizen.

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