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DER SCHATZ AUS DER TRUHE - DAS ABENTEUER IN DER WACKERBURG

An diesem Nachmittag betrat Janus zum ersten Mal den Dachboden.

„Du lieber Himmel, der ist ja voller Gerümpel“, staunte er und deutete dann auf die kleine Tür an der Wand. „Ist sie das? Dahinter fällt man doch direkt nach draußen.“

„Falsch! Dahinter liegt eine unbekannte, magische Welt“, berichtigte Ulla. „Es kommt nur darauf an, das Richtige auf die Tür zu schreiben.“

Tori drückte vorsichtig die Klinke nieder.

Ulla griente. „So einfach geht’s nicht.“ Sie holte die Kreide und den Schlüssel aus der Truhe und blickte den Bruder auffordernd an.

Janus rief: „Worauf wartest du? Ich will den mittelalterlichen Markt in Hamburg auch sehen, von dem du mir erzählt hast.“

Ben schüttelte den Kopf. „Kein Markt. Wie wär’s mit der Wackerburg? Ich meine, in einer Zeit, als dort noch die Raubritter ihr Unwesen trieben. Wisst ihr noch, wie enttäuscht wir waren, weil die im Dorf nicht mal etwas über die Wacker-Brüder wussten?“

Janus war mit diesem Ziel sofort einverstanden, nur Tori erkundigte sich beklommen: „Können die uns sehen?“

Ulla nickte. „Ja. Es ist, als seien wir Menschen aus dieser Zeit.“ Das gefiel Tori nicht sehr; unsichtbar bleiben wäre ihr lieber gewesen.

„Wann haben die Wacker-Brüder denn gelebt?“, wollte Janus wissen.

„Die Burg ist im Jahr 1590 abgebrannt“, sagte Ulla. „Ich hab’s neulich erst in einem Sagenbuch nachgelesen. Darin ist auch von dem Schatz die Rede, der dort noch liegen soll.“ Sie setzte die Kreide an und schrieb WACKERBURG VOR DEM BRAND 1590. Während sie die Jahreszahl auf das Türchen setzte, murmelte sie das Sprüchlein. Es waberte grün und dann war die Schrift verschwunden. Ulla steckte den Schlüssel ins Schloss und ließ Tori öffnen. Mit vor Aufregung zitternder Hand kam die Freundin der Aufforderung nach. Aus der Öffnung gähnte ihnen Dunkelheit entgegen.

„Wir sind im Verlies gelandet“, vermutete Janus. „Was machen wir ohne Licht?“

„Ich hole Kerzen.“ Ben sauste die Bodentreppe hinunter in die Küche. Er hatte Glück – Lisa war nicht da, also musste er sich keine Ausrede einfallen lassen. Er wusste, wo Kerzen und Streichhölzer aufbewahrt wurden. Null Komma nichts war er wieder bei den anderen.

Während seiner Abwesenheit hatte Ulla einige Rollen Schnur aus dem alten Schrank gekramt, die ihr schon beim ersten Bodenbesuch ins Auge gefallen waren. „Kellergänge sind ja was Ähnliches wie ein Labyrinth“, erklärte sie. „Nicht, dass wir uns auf dem Rückweg verirren.“

Ben zündete drei Kerzen an und drückte je eine Tori und Janus in die Hand. „Ich gehe mit Ulla voraus“, bestimmte er.

Ulla band die Schnur an der Innenklinke des Türchens fest und Ben leuchtete ihr beim Laufen. Janus und Tori folgten.

Selbst bei Kerzenlicht war es in dem engen, muffig riechenden Gang ziemlich duster. Die erste Rolle war bald aufgebraucht und Ulla knüpfte eine weitere Schnur an. Einige Male gelangten sie an Abzweigungen, entschieden sich jedoch, im Hauptgang zu bleiben. Auch die dritte Schnurrolle kam noch zum Einsatz, denn die finstere Röhre führte um einige Ecken. Endlich wurde es vor ihnen ein wenig heller und dann standen die vier am Fuß einer schmalen, ausgetretenen steinernen Treppe. Oberhalb erkannten sie Fackelnschein.

„Vorsicht!“, warnte Ulla leise. „Wo Licht ist, sind Menschen.“

Über die Treppe gelangten sie in die Eingangshalle der Burg. Dort roch es nach verbranntem Pech, Braten und Klosett.

„Igitt!“, flüsterte Tori und hielt sich die Nase zu.

Laute Stimmen drangen an ihr Ohr, obgleich in der Halle kein Mensch zu sehen war. Also kamen sie wohl aus der Etage darüber.

Ulla band das Schnurende an einen der rostigen Haken, die massenweise aus der Wand ragten. Die anderen löschten die Kerzen und  legten sie auf den Stufen ab. Mit Herzklopfen schlichen alle im Gänsemarsch erst durch die Halle und dann über eine schmale Treppe ohne Geländer, die an der Wand entlang führte, nach oben. Dort tat sich eine ähnliche Halle auf wie unten, ebenfalls von Fackeln erhellt, die schrecklich qualmten und den Raum mit grauem, stinkenden Nebel füllten. An einem klobigen Tisch in der Mitte des Raumes hockten auf klobigen Schemeln drei vor Schmutz starrende, wüste Gesellen. Einer davon schien besonders groß und stark zu sein.

„Die Wacker-Brüder“, flüsterte Ben Janus zu.

Entlang der Wand, nahe der Treppe, zog sich eine breite, hochbeinige massive Holzbank hin. Sie lag in tiefem Schatten und bot den vier Eindringlingen genügend Platz, um darunterzukriechen. Die Männer am Tisch achteten nicht auf ihre Umgebung. Sie waren ziemlich betrunken und stritten heftig. Was sie sich an den Kopf warfen, war nicht zu verstehen, aber es klang drohend. Zwei ebenso schmutzige, heruntergekommene Gestalten stolperten von der anderen Seite des Saales herein und brachten zwei Weinkrüge. Einer schenkte dem Riesen ein, der andere dessen Brüdern, die johlend tranken und sich nachschenken ließen.

Auf der Tischplatte blinkte und funkelte Gold und Silberzeug. „Beute! Und sie streiten darum“, wisperte Ulla.

Der Riese erhob sich taumelnd – Himmel war das ein Ungetüm! Krachend fiel der Schemel um. Auch seine Brüder versuchten, in die Höhe zu kommen, aber stattdessen fielen sie wie nasse Säcke von ihren Sitzen herunter. Die Knechte luden sich die Säufer schweigend auf die Schultern und schleppten sie weg. Der Riese aber lachte dröhnend und schadenfroh, griff einen Ledersack von den Dielen auf und schob das funkelnde Zeug hinein, das auf dem Tisch lag. Es klimperte und klirrte. Dann schulterte er den Sack und trampelte mit unsicherem Schritt an der Bank vorüber die Treppe hinunter in die Halle.

„Ein Wunder, dass der die Stufen findet“, flüsterte Janus.

„Der ist ans Saufen und an die Treppe gewöhnt“, vermutete Ben.

„Was ist?“, wisperte Ulla. „Schleichen wir ihm hinterher?“ Doch Tori wollte das Versteck unter der Bank auf keinen Fall verlassen und Janus entschied: „Entweder alle oder keiner.“

Die Entscheidung erwies sich als richtig, denn der Unhold – ganz gewiss der Gero der Legende – kam zurück. Er grölte etwas Unverständliches und wiederum erschienen die Knechte. Gero öffnete eine Truhe an der gegenüberliegenden Wand und entnahm ihr drei weitere prall gefüllte Ledersäcke. Er und die beiden zwielichtigen Gestalten luden sie sich auf die Schultern und stapften die Treppe hinunter.

„Himmel!“, flüsterte Ulla. „Das ist der Schatz. Gero bringt ihn in Sicherheit. Ich will sehen, wohin.“

Die vier krochen nun doch unter der Bank hervor und schlichen in die Halle hinunter. Sie war leer, aber das Portal zum Burghof stand offen. Draußen war Nacht, doch im Schein der Fackeln, die auch dort brannten, erkannten sie einen Karren und zwei eingespannte Pferde. Ein drittes Pferd stand aufgezäumt bereit. Gero von der Wacker gestikulierte mit den Knechten und kam dann allein auf das Portal zu. Eilig wichen die vier zurück und drückten sich in eine dunkle Nische zwischen der Wand und einem großen Schrank.

Der Riese verteilte an vielen Stellen der Halle Pech, das er mit einer Holzkelle aus einem Bottich schöpfte. Auch der Schrank bekam davon eine Ladung ab, doch in die Nische schaute der Raubritter nicht. Aus bereitstehenden Säcken verstreute er gehexeltes Stroh und stapfte dann in den Saal hinauf. Die vier folgten in sicherem Abstand und – auf den Stufen hockend – sahen sie ihn den Raum in gleicher Weise für einen Brand vorbereiten. Schemel, Tisch, Truhe und Bank wurden reichlich mit Pech bekleckst.

„Gut, dass wir dort weg sind!“, hauchte Tori.

Schließlich verließ Gero den Saal in der Richtung, aus der anfangs die Knechte gekommen waren. Auch Janus und Ben setzten sich in Bewegung, in der Absicht, den Riesen weiter zu beobachten.

„Ich geh da nicht mit“, flüsterte Tori. „Ist mir zu gefährlich. Wenn wir uns in der Burg verlaufen …“

Ulla gab ihr recht, aber die Jungen winkten ab. „Wir packen das! Verzieht euch in den Keller!“ Schon liefen sie quer durch den Saal.

Die Mädchen schlichen wieder treppab, dicht an die Wand gedrückt, und quer durch die Halle zur Kellertreppe. Dort hockten sie sich auf die kalten, schmutzigen Stufen.

„Nach der Legende setzt Gero von der Wacker jetzt die Kammer seiner Brüder in Brand. Nur passiert es nicht aus Unachtsamkeit, wie die Legende berichtet, er hat’s von vorn herein geplant“, flüsterte Tori.

„Von wegen Dämon!“, pflichtete Ulla bei. „Mit so viel Pech bekleckert, brennt alles im Nu. Und mit dem Schatz haut der Kerl ab. Hast du ja gesehen.“

„Aber es heißt, die drei Brüder seien gemeinsam …“

„Mensch, Tori! Drei Männer sind den Flammen entkommen. Die Leute dachten, es seien die drei Brüder. Aber zwei von ihnen waren ja abgefüllt bis oben hin. Wie sollten die sich aufrappeln? Nee, nee! Der Kerl lässt sie brutzeln und murkst sicher später auch die Knechte noch ab. Deshalb hat nie wieder jemand was von den Wacker-Brüdern gehört.“

Nach einer Zeit, die den Mädchen wie einen Ewigkeit vorkam, hörten sie es im oberen Saal rumoren und zischen, dann polterten schwere Tritte die Treppe herunter. Vorsichtig reckten Ulla und Tori die Hälse …

 

Der Riese stürzte den Pechkübel in der Halle um, rannte von Fackel zu Fackel, riss sie aus den Halterungen und warf sie auf Stroh und Pech. Im Handumdrehen fing alles Feuer und der Brandstifter preschte aus der Halle. Sie hörten ihn etwas schreien, das wie ein Befehl klang, ein Pferd wieherte und dann knarrten Räder …

Nun war nur noch das Knistern der Flammen zu vernehmen. „Der ist weg“, murmelte Ulla. „Die Burg gehört uns.“

„Mir ist nicht nach Lachen“, jammerte Tori. „Wo bleiben die Kerle?“

Gerade da sprangen zwei Gestalten durchs Feuer und fielen mehr als dass sie rannten die Kellertreppe hinunter.

„Weg von hier“, keuchte Janus.

„Immer schön langsam“, bremste Ulla. „Wenn überhaupt, brennt es hier unten zuletzt.“

„Aber wenn sich der Rauch hier sammelt, ersticken wir“, keuchte Ben und versuchte mit zitternder Hand, ein Streichholz zu entzünden. Es flackerte und erlosch. Mit einem zweiten und dritten erging es ihm ebenso.

„Geht schon los“, knurrte er. „Die Kerzen können wir uns knicken.“

Über ihnen rauschte hörbar das Feuer. Eilig hangelten sich die vier in der Finsternis an der Schnur zurück, erreichten glücklich das Türchen und Ben – als Letzter in der Reihe –  drückte es aufatmend hinter sich zu.

„Bin ich froh, wieder auf dem Dachboden zu sein“, gestand Tori und ließ sich auf einen alten Sessel fallen.

„Wir hatten große Sorge, dass euch was passiert ist“, sagte Ulla zu den Jungen. „Aber nun erzählt mal.“

Ben gestand, ihm sei zuletzt auch nicht mehr wohl bei der Sache gewesen. „Der Fiesling hatte wirklich überall schon Vorbereitungen für den Brand getroffen. Seine Brüder müssen dämlich gewesen sein, dass sie das nicht bemerkt haben.“

„Oder sie mussten fliehen, weil ihnen die Häscher auf den Fersen waren, planten den Brand gemeinsam und Gero trickste die beiden Jüngeren aus“, fiel Tori ein.

„Möglich wär’s“, gab Janus zu. „Austricksen passt jedenfalls total. Die zwei jüngeren Brüder waren nämlich nicht etwa stinkbesoffen, die waren mausetot, als Gero in ihren Kammern Feuer legte. Im Wein der anderen Kanne muss vergifteter Wein  gewesen sein.“

„Wie wollt ihr das wissen?“, zweifelte Ulla.

„Na, er hat nicht nur die Fackel an ihr Lager gehalten – wenn man die Misthaufen, auf denen die pennten, so nennen will – sondern auch die Kerle selber angezündet und die rührten sich nicht“, versicherte Ben.

„Ihr schneidet auf!“, unterstellte Tori den beiden.

„Nee!“ Janus schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Es war grauslich. Und stellt euch vor – einmal hat mich dieser Gero sogar bemerkt. Ich hatte mir als Tarnung den Pullover über den Kopf gezogen und beobachtete alles nur durch die Halsöffnung. An einer Ecke wagte ich mich bisschen zu weit vor oder bewegte mich zu schnell – was weiß ich; jedenfalls glotzte der Unhold entsetzt in meine Richtung und ergriff die Flucht. Sicher hielt er mich für einen Dämon oder Geist.“

„Na, da kommt ja doch was Geisterhaftes vor“, warf Tori ein. „Und wenn Gero das später unter seinesgleichen beim Saufen erzählt hat, bist du das in der Legende – du bist der Dämon! Dir hat er den Brand in die Schuhe geschoben!“

Die Mädchen fanden das urkomisch, Janus höchst bemerkenswert und Ben war geradezu neidisch auf den Freund. Er übernahm es, die Geschichte zu Ende zu erzählen.

„Wir folgen dem Fliehenden und fanden so den Saal wieder. Dort mussten wir warten, bis Gero sich davonmachte. Erst als alles in Flammen stand, pirschten wir uns an die Treppe heran. Aber so richtig gefährlich wurde es dann hier unten in der Halle. Da brannte es wegen des offenen Portals am besten. Ich glaubte, wir kämen da niemals ohne Schaden durch.“ Ben beäugte suchend seinen Arm.

„Ist was?“, erkundigte sich Ulla.

„Na ja, eigentlich müsste mein Hemd ein gewaltiges Brandloch haben. Es hatte Feuer gefangen. Brandblasen müssten auch auf meiner Haut sein. Aber nee, keine Spur. Und dabei hat’s schrecklich  weh getan und tut’s auch noch. Es ist wie bei unserem Besuch auf dem Hamburger Markt, da war auch kein Striemen zu sehen und doch brannte mein Rücken wie Feuer.“

Tori schnupperte wie ein Hund an ihrer Kleidung. „Die sollte eigentlich nach Rauch stinken, aber ich rieche nichts“, stellte sie erstaunt fest.

„Wir können aus der Vergangenheit nichts mitnehmen“, erklärte Ulla. „Dinge zurücklassen aber sehr wohl. Zum Beispiel sind Schnur und Kerzen noch im Gang.“ Sie spann den Faden weiter: „Wenn das Feuer damals nicht ins Verlies gedrungen ist, müssten wir, falls wir beim Graben auf den richtigen Gang in der Ruine träfen …“

Janus grinste. „Inzwischen auch nichts mehr davon finden. Oder glaubst du, das Zeug hält ein paar Jahrhunderte durch? Wir könnten höchstens jetzt gleich mal hinter der Tür nachsehen. Wollen wir?“

Aber dazu brachte keiner den Mut auf.

„Warum konnten wir die Kerle nur nicht verstehen?“, grübelte Ben. „Laut genug rumgebrüllt haben die doch.“

„Mensch, die Leute von damals redeten anders als wir heute“, erinnerte Janus. „Außerdem waren die Kerle stinkbesoffen und nuschelten nur.“

Tori schlug dem Bruder vor, eine Geschichte über den Brand der Wackerburg zu verfassen. „Passt doch für die Geschichtswandzeitung zum Thema Heimatsagen und ist nicht immer derselbe Kiki.“

„Da machen wir mit“, versprach Ulla. Schlüssel und Kreide wanderten zurück in die Truhe. Bei Esch’ verschwanden die vier dann in Janus’ Zimmer. Tori holte ihren Laptop, suchte die passende Schrift und tippte:  

Die Wahrheit über die Wackerburg

Im Jahr 1590 brannte die Wackerburg in den Harburger Bergen nieder. Um diese Burg rankt sich eine Legende, in der auch von einem Dämon die Rede ist, der den Brand gelegt haben soll.  Wie aber wäre es, wenn sich alles ganz anders zugetragen hätte? …  

Und dann fabulierten die vier lustig drauf los. Es wurde eine lange Geschichte, zu der jeder seinen Teil beisteuerte.

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