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Das Nicht Greifbare - Der Denkzettel

Man schrieb das Jahr des Herrn 1022. Es war Winter, kalt und dunkel. Die es einrichten konnten, blieben hinter dem Ofen hocken, es sei denn, sie froren aus Mangel an Feuerholz oder zur Ehre des Himmels, weil sie Armut gelobt hatten. Coelestina, die Pförtnerin des Benediktinerinnenklosters zu Kaufungen, gehörte zu den letzteren. Soeben stolperte sie bibbernd über den verschneiten Klosterhof, vorbei an den Mauern der fast vollendeten neuen Kirche, die finster in den Himmel ragten. Sie war wegen eines unverhofft eingetroffenen Gastes wieder mal viel zu spät dran. Aus der Kapelle wehte ihr der Singsang der Nonnen entgegen, die längst mit der Komplet – dem Abendgebet – begonnen hatten.

Es ließ sich nicht verhindern, dass die Kapellentür bei Coelestinas Eintritt quietschte. Für Bruchteile eines Augenblicks stockte der Gesang, aber nur die Äbtissin hob missbilligend den Kopf.

„Wenn sie doch mit sich selbst so streng umginge“, dachte die Pförtnerin unwillig und huschte zum letzten Platz rechts im Gestühl. Wer sich verspätete, musste zur Buße während der Gebete stehen. Das war zwar ermüdend, aber im Winter durchaus auch ein Vorteil: Man vermied die Berührung mit dem von Raureif überzogenen Holz. Zudem konnte man den Blick unter dem Schleier hervor unauffällig schweifen lassen.

Während Coelestina also fromm die in jahrelanger Übung auswendig gelernten Texte betete und sang, spähte sie in die Dunkelheit der Kapelle hinein. Dort zeichnete sich, außerhalb des Lichtkreises der Kerzen kaum wahrnehmbar, ein Schatten ab. Das konnte nur der  Benediktiner sein, den sie vor einer knappen Stunde durch die Klosterpforte eingelassen hatte. Merkwürdig, dass er noch vor ihr hier war, obgleich sie ihn doch gerade erst im Gäste-Dormitorium* verlassen hatte.

’Der Böse reitet schnell’ hörte sie die Großmutter daheim in der Kate krächzen und vermutlich ritt der Satan auch tatsächlich gelegentlich in Gestalt mancher Edlen aufgeputzt über den Klosterhof, aber gewiss scheute er Weihwasser und betrat keine Kirche. Vielleicht hätte sie trotzdem darauf bestehen sollen, dass der Mönch ihr Namen und Herkunft nannte. Stattdessen hatte sie nur gefragt, ob er in Ordensangelegenheiten unterwegs sei und sich mit einem Nicken von seiner Seite zufriedengegeben. Sei’s drum! Hier im Kloster galt das Gesetz: Verwehre keinem Zuflucht, der zu später Stunde anklopft! Also hatte sie den Mönch ins Gäste-Dormitorium geführt, ihm ein Lager für die Nacht bereitet und sich, weil die Kellermeisterin Solongia inzwischen bereits zum Gebet war, auch noch um eine Mahlzeit für ihn gekümmert – Wasser, Brot und Zwiebeln.

Während dieser Zeit war kein einziges Wort zwischen ihnen gefallen; aber was gab es denn schon mitzuteilen?

Coelestinas Blick glitt zur Äbtissin hinüber. Von deren Gesicht war wegen des Schleiers nicht viel zu erkennen, so viel jedoch schien sicher: Frau Udas Gedanken waren nicht beim Gebet, denn sie bewegte die Lippen nicht. Der Gast konnte daran nicht Schuld haben, denn sie wusste noch gar nichts von ihm. Erst morgen würde sie von seiner Anwesenheit erfahren, weil zwischen dem Abend- und Morgengebet im Kloster das 'Große Schweigen' herrschte. In dieser Hinsicht führte Äbtissin Uda ein strenges Regiment nach benediktinischer Regel. Für sich selbst legte sie die ’regula’ weniger wortgetreu aus.

Als ehemalige Kaiserpfalz beherbergte das Kloster Kaufungen häufig hohe Gäste auf der Durchreise nach dem Süden und die Äbtissin ließ es sich nicht nehmen, die edlen Herrschaften persönlich zu empfangen. ’Sie spielt wieder die Hochgeborene’, lästerten die Nonnen, wenn sie verbotenerweise durch die nur scheinbar geschlossenen Fensterläden in den Hof lugten; ein bisschen Neid schwang durchaus in dieser Bemerkung mit. Doch war es notwendig, dass Frau Uda sich wie eine Dame beschenken ließ, an der Tafel der Herrschaften den Vorsitz führte und deshalb oft die vorgeschriebenen Gebetszeiten versäumte? Falls solches Kaiserin Kunigunde zu Ohren gekommen war, hatte die Hohe Frau diesen Mönch vielleicht als …

Die Nonnen rissen Coelestina aus dem Grübeln. Sie sangen ’nunc dimittis servum tuum domine secundum verbum tuum in pace’ – nun entlässt du deinen Knecht, oh Herr, nach deinem Wort in Frieden.

Das Bibbern in der Kälte hatte bis zur nächsten Gebetszeit ein Ende. Wegen der anmaßenden Gedanken, die den Lebenswandel der Äbtissin betrafen, betete die Pförtnerin in Windeseile ein ’Vater unser’ und ein ’Ave Maria’, die vorgeschriebene Buße für kleinere Sünden, und reihte sich dann in die Prozession der Nonnen ein, die der Kreuzträgerin über den Hof ins Klostergebäude folgten. Der Mönch musste die Kapelle schon vorher verlassen haben …

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Im Dormitorium der Benediktinerinnen war es kalt. Einen Kamin gab es nur im Refektorium*. Vorhänge trennten die Schlaflager voneinander. Schweigend legten die Nonnen Umhang und Schleier ab und schlüpften im Habit unter die groben Decken. Die benediktinische Regel verlangte, dass sie angekleidet und gegürtet schliefen – in der kalten Jahreszeit eine Wohltat, im Sommer jedoch mitunter eine zusätzliche Buße.

Nach und nach erloschen die Kerzen, nur neben Coelestinas Lager blieb es hell. Sie hatte in dieser Nacht Weckdienst. In wenigen Stunden musste sie die Schwestern zum nächtlichen Gebet rufen. Auch wenn sie schlief, würde ihr Ohr das Klicken des aus der Kerzenuhr herabfallenden Metallplättchens wahrnehmen. Es war so ziemlich das erste, das man an klösterlichen Nachtgeräuschen verinnerlichte. Zur Rechten hörte sie hinter dem Vorhang Solongias unruhiges Atmen – die Kellermeisterin war noch wach.

„Schweigen hin, Schweigen her! Ich muss es loswerden“, dachte Coelestina. „Wozu hat Gott mir eine Zunge gegeben, wenn ich sie nicht zur rechten Zeit nutze?“ Vorsichtig schob sie den Vorhang ein wenig zur Seite. Solongia saß sofort aufrecht.

„Im Gäste-Dormitorium schläft ein Benediktiner“, hauchte Coelestina. „Er klopfte vor der Komplet. Kommt vielleicht aus Bamberg. Ist vielleicht ein Prüfer.“

„Meinst du, SIE wird abgesetzt?“, wisperte Solongia.

„Weiß nicht“, flüsterte Coelestina und ließ den Vorhang zurückgleiten.

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Äbtissin Uda nahm für sich das Privileg einer angewärmten Kammer in Anspruch. Auf der Pfanne glühten Holzkohlen und zusätzlich zur groben Decke befand sich auf  ihrem Lager ein wärmendes Fell. Ein geräumiger Schrank ließ den Schluss zu, dass die Äbtissin auch sonst einiges besaß, das nicht allen zugänglich war. Zwar hatte der Ordensgründer Sankt Benedikt in seiner ’regula’ weise verfügt, dass das Laster des persönlichen Eigentums mit der Wurzel auszurotten sei, doch wie sollte die Kellermeisterin mit Geschenken wirtschaften, wie etwa einer einzelnen Karaffe Wein aus Burgund? Oder gar mit dem süßen Backwerk, das ein luxemburgischer Vetter Uda erst wenige Tage zuvor von einer Reise mitgebracht hatte? Es wäre unhöflich gewesen, solche Geschenke nicht anzunehmen und es war in jedem Fall Sünde, sie verderben zu lassen. Also empfand die Äbtissin keine Gewissensbisse, als sie sich nach dem Aufenthalt in der zugigen Kapelle einen Becher Wein einschenkte und dazu vom süßen Gebäck naschte. „Schließlich bin ich nicht irgendwer, sondern die Nichte der Kaiserin“, dachte sie.

Was wäre nur aus ihr in dem weltfernen, burgundischen Nest geworden, ohne Aussicht auf eine standesgemäße Heirat? Da war es wesentlich besser, über einen Nonnenkonvent* zu herrschen, hin und wieder als Gastgeberin mit Ebenbürtigen zu tafeln und sich von ihnen hofieren zu lassen. Bis zum Sommer sollte die neue Kirche vollendet werden. Kein Geringerer als der Bamberger Bischof würde sie konsekrieren*. Neben ihm aber würde sie stehen, ihm gleich an Bedeutung, in der Hand den Äbtissinnenstab. Über ihr gab es nur noch den Kaiser und die Kaiserin. Zufrieden mit sich und der Welt und müde vom Weingenuss sank Äbtissin Uda aufs Lager und zog das Fell bis unters Kinn.

​

In dieser Nacht fiel der Schnee in dichten Flocken.

Pünktlich eine Stunde nach Mitternacht weckte Coelestina ihre Mitschwestern: Es war Zeit für die Matutin*.

Während die Nonnen zum Aufwärmen ins Refektorium schlüpften, pochte sie erst verhalten, dann heftig an die Kammertür der Äbtissin. Aber dahinter blieb es still. Wie überall im Kloster gab es auch an dieser Tür kein Schloss, doch nie hätte eine der Schwestern gewagt, den Türriegel ohne Aufforderung zurückzuschieben und die Kammer zu betreten. Coelestina klopfte daher noch mehrmals, immer mit gleichem Ergebnis.

Im Refektorium warteten die Benediktinerinnen inzwischen geduldig und schweigend auf das Erscheinen der Äbtissin.

Als Coelestina allein zurückkam, wussten alle, Frau Uda würde wieder einmal – aus welchen Gründen auch immer – das gemeinsame Gebet versäumen. Die Sakristanin* ergriff das Stangenkreuz und führte die Prozession durch den tiefen Schnee zur Kapelle.

Von ihrem Platz aus hielt Coelestina Ausschau nach dem Mönch. War er ein echter Benediktiner, dann würde er die Matutin nicht versäumen, war er etwas anderes, dann  …

Der Fremde erschien nicht. Da hielt es Coelestina nicht mehr im Gestühl. Unbekümmert um das Quietschen der Tür schlüpfte sie aus der Kapelle und stapfte durch den Schnee zurück ins Dormitorium der Gäste. Leise öffnete sie die Kammertür des mysteriösen Gastes einen Spaltbreit und horchte in die Finsternis. Da atmete niemand. „Barmherziger Gott!“, dachte sie beunruhigt. „Wer hat sich da bei uns eingeschlichen?“ So schnell es ihr möglich war, tastete sie sich in der Finsternis zurück auf den Hof und watete hinüber zum Dormitorium der Nonnen …

​

Jäh fuhr die Äbtissin aus tiefem Schlaf empor. Im Bogen der offenen Kammertür stand eine Gestalt, einem Mönch ähnlich. Der Fackelschein aus dem Gang warf seinen Schatten verzerrt auf den Ziegelboden. Das Gesicht des Fremden wurde von der Kapuze verdeckt.

„Wer hat Euch erlaubt, hier einzutreten?“, rief Uda aufgebracht. „Wisst Ihr nicht, wen Ihr vor Euch habt?“

„Eine Sünderin“, erwiderte der nächtliche Besucher in verächtlichem Ton. Hinter ihm fiel die Tür hallend ins Schloss. Die flackernde Öllampe auf dem Tisch wurde plötzlich um vieles heller. Das Licht brach sich in der Weinkaraffe, die neben der Tonschale mit dem Gebäck stand. Der Mönch ergriff das Gefäß und ließ es zu Boden fallen. Beim Klirren des splitternden Glases zuckte Uda zusammen. Schreck und Empörung standen ihr gleicherweise ins Gesicht geschrieben.

„Erhebe dich!“, befahl der nächtliche Besucher streng.

Seit ihren Kindertagen hatte niemand mehr in diesem Ton mit Uda gesprochen und die Äbtissin hatte nicht vor, dem Befehl Folge zu leisten, doch eine geheimnisvolle Kraft zog sie gegen ihren Willen vom Lager empor.

„Knie nieder!“, hörte sie die Stimme des Mönches. „Hier!“ Dabei wies er auf die Weinlache und die Glasscherben.

Die Äbtissin wagte nicht zu widersprechen. Wie Messer gruben sich die Splitter in ihre Knie. Während sie vergeblich versuchte, am Tischbein Halt zu finden, um dem schlimmsten Schmerz zu entgehen, dachte sie: „Ich träume. Gleich werde ich erwachen! Wie sollte sich ein Fremder einschleichen? Er müsste sich im Kloster auskennen.“ Mit dünner Stimme stammelte sie, man werde sie zum Gebet rufen und dann …

„Den Weckruf, Uda, hast du verschlafen und die Art deiner Gebete machen dem Satan Freude, nicht dem Himmel“, unterbrach sie der Fremde barsch. „Eine Abtrünnige bist du. Brichst die ’regula’, in der es heißt: Zu leben nicht nach eigenem Gutdünken, zu gehorchen nicht eigenen Begierden, zu zittern vor dem Wort, das von den Nachlässigen sagt, verdorben sind sie in ihren Gelüsten. Zu ihnen spricht Gott: Was zählst du meine Gebote auf, da Zucht dir verhasst ist und du meine Worte hinter dich wirfst? Stolze und Ungehorsame soll man durch Züchtigung im Zaum halten, denn es heißt: Schlage deinen Sohn, so rettest du sein Leben vor dem Tod.“ Obwohl sie in einer Kammer gesprochen wurden, hallten die Worte der benediktinischen Regel wie in einer Kirche nach.

„Wer seid Ihr?“, wimmerte die Äbtissin.

Der Mönch antwortete nicht, aber er versetzte der Knienden unversehens einen Schlag ins Gesicht. Die Ohrfeige brannte wie Feuer, das sich im gesamten Körper ausbreitete. Aufschreiend hielt Uda sich den Kopf. Vor ihren Augen kreisten glühende Räder; die Glasscherben bohrten sich tiefer in ihre Knie; schließlich raubte ihr der Schmerz das Bewusstsein …

Draußen stand Coelestina zitternd in einer Nische des Ganges. Sie hatte sich nicht geirrt: Der Fremde war wegen Frau Uda hier. Seine Stimme, die mühelos jede Wand zu durchdringen schien, jagte ihr einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunter. Wer war dieser Mann, dass er eine Äbtissin schlagen durfte? Denn anders vermochte sie sich das klatschende Geräusch und den Aufschrei Udas nicht zu deuten.

Unvermutet stand der Fremde im Gang. Wann hatte er die Kammertür geöffnet und geschlossen? Coelestina presste sich tiefer in die Nische und hielt die Luft an, als der Mönch geräuschlos an ihr vorüberglitt und am Ende des Ganges mit der Finsternis verschmolz. ’Der Böse reitet schnell!’ hörte sie erneut die Stimme der Großmutter, die mehr über dunkle als über lichte Mächte gewusst hatte.

Nein! Dieser war gewiss nicht der Böse! Es sei denn, er hätte in der Hölle die ’regula Benedicti’ eingeführt.

Erst als sie wieder in der Lage war, ruhig zu atmen, nahm Coelestina eine Fackel aus der Halterung und öffnete behutsam die Kammertür der Äbtissin. Weindunst schlug ihr entgegen. Aha, deshalb war Frau Uda nicht zu wecken gewesen! Und an Gebäck hatte sie sich auch in aller Heimlichkeit gütlich getan.

Die Äbtissin lag zusammengekrümmt auf dem Boden.

Coelestina befestigte die Fackel an der Wand, schob die Unterarme in die weiten Ärmel ihres Habits* und betrachtete die reglose Gestalt. Ihr Mitleid hielt sich in Grenzen, allerdings in immer noch christlichen: Wer Unrecht tat, handelte sich Strafe ein. Darin unterschied sich das klösterliche Leben nicht von dem, das Coelestina daheim in der Kate des Vaters geführt hatte. Schließlich bückte sie sich und zerrte die Ohnmächtige mühsam aufs Lager.

Der Habit der Äbtissin war feucht vom Wein und dort blutig, wo die Scherben sie verletzt hatten. Coelestina unterließ es, die Splitter zu entfernen und bedeckte Frau Uda nur mit dem Fell. Sollte die Äbtissin doch denken, sie sei selbst aufs Lager gekrochen. Sie jedenfalls würde kein Wort darüber verlieren, dass sie in der Kammer gewesen war. Eilig verließ sie den Raum, steckte die Fackel an ihren üblichen Platz und erwartete die Mitschwestern im Dormitorium. Manchmal war das 'Große Schweigen' ein Segen – niemand konnte sie vor morgen früh fragen, warum sie die Kapelle vorzeitig verlassen hatte.

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Nach den Laudes*, zu denen Coelestina die Äbtissin erst gar nicht geweckt hatte, flüsterte Solongia: „Ich schau mal nach dem Mönch; der wird Hunger haben.“

Schon bald war sie mit allen Anzeichen der Bestürzung zurück, zog die Pförtnerin im Refektorium auf die Seite und erklärte, das Lager sei unberührt, ebenso das Abendbrot.

Coelestina hatte Ähnliches bereits befürchtet, versicherte jedoch – der Wahrheit entsprechend – sie habe den Mönch während des Abendgebetes der Schwestern im Kloster gesehen. Solongia meinte, ein Prüfer scheine der Fremde jedenfalls nicht gewesen zu sein, wenn er so schnell wieder über alles Berge sei.

Über alle Berge? Das war nicht ganz zutreffend. Dazu gehörten Wege und fester Tritt. Beides schien der Mönch nicht nötig zu haben. Doch über ihre Beobachtungen vor der Kammer der Äbtissin würde Coelestina mit Solongia nicht sprechen, denn sie verbot es sich ja selbst, eins und eins in rechter Weise zusammenzubringen. Also versicherte sie nur, dass ein der ’regula’ kundiger Prüfer schnell erkannt haben könne, dass Frau Uda vom Pfad der Frömmigkeit abgewichen sei.

„Hast du die Kapelle etwa  deshalb heute Nacht verlassen, um nach ihm zu suchen?“, wollte Solongia wissen.

Coelestina versprach dem Himmel, einen schmerzhaften Rosenkranz zu beten, schüttelte den Kopf und log tapfer, es sei sie nur ein menschliches Bedürfnis angekommen. „Dabei nahm ich den Schatten des Fremden im Hof wahr. Und  als ich in der Frühe an der Pforte nach dem Rechten sah, fand ich den Riegel zurückgeschoben.“

Für heute hatte sie das erlaubte Maß der Notlügen ausgeschöpft!

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Äbtissin Udas Platz blieb auch beim Frühmahl leer. Das gab unter den Nonnen Anlass zu tausend bissig geäußerten Vermutungen. Coelestina gelobte einen weiteren schmerzhaften Rosenkranz als Buße und log, die Äbtissin habe sie wissen lassen, dass sie sich krank fühle.

Um die Mittagszeit pochte es erneut an die Klosterpforte. Diesmal begehrte ein Tross mit Pferd und Wagen Einlass – die Hohe Frau Kunigunde beehrte das Kloster Kaufungen. Das geschah fast immer unangemeldet, aber niemals ohne Grund. Kaufungen war ihre Heimstatt und Zuflucht. Die älteste Nonne unternahm es, die Kaiserin zu begrüßen, während die Kellermeisterin und einige Schwestern hierhin und dorthin huschten, um dem Besuch den Aufenthalt in den zu dieser Zeit ziemlich unwirtlichen Mauern erträglich zu machen.

„Wo ist Äbtissin Uda?“, erkundigte sich die Kaiserin stirnrunzelnd.

„Sie hat sich … sie ist unpässlich“, stammelte die alte Nonne. „Wenn Ihr befehlt, Hohe Frau, werde ich sie ...“

„Es eilt nicht“, wehrte Kunigunde ab und ließ sich zu ihrer Kammer begleiten.

Nein, es eilte nicht. Was sie mit der Nichte zu besprechen hatte, war unangenehm genug. Wenn das Gerücht der Wahrheit entsprach, dann verhielt sich Uda nachlässig in der Einhaltung der Ordensregeln und der gute Ruf des Klosters geriet dadurch in Gefahr. Sie selbst hatte der Nichte Kaufungen in der Annahme anvertraut, dass die Tochter ihrer Schwester dem Namen der Familie und dem Kaiserhaus Ehre machen werde. Also war es nun auch ihre Aufgabe, den Ruf des Klosters rein zu halten.

Kunigunde besprach Probleme grundsätzlich zuerst mit dem Himmel und erst danach mit dem Kaiser; manchmal auch nur mit dem Himmel. Darin hatte sie Übung und traf wohl auch den rechten Ton, sofern es dafür besonderer Vorschriften bedurfte! Auch in diesem Fall war es so gelaufen und aus den Höhen der Himmlischen wurde ihr als Antwort ein recht seltsamer Traum geschickt …

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Vor dem Mittagsgebet hüllte sich die Kaiserin in den Mantel der Benediktinerinnen, den sie hier statt königlicher Gewänder trug. „Wartet im Refektorium“, befahl sie den Nonnen und machte sich auf den Weg zu Udas Kammer.

Kunigunde war Kaiserin durch Gottes Gnade. Hohe geistliche Würdenträger beugten das Haupt vor ihr. Also tat sie, was keine Nonne ohne Aufforderung gewagt hätte: Sie öffnete die Kammertür der Äbtissin und trat ein.

Die Luft war verbraucht, es roch nach kaltem Rauch und schal gewordenem Wein. Unter Kunigundes Schuh knirschten Glassplitter. Mit wenigen Schritten war die Kaiserin bei dem schmalen Fenster und riss den Laden auf. Eisige Winterluft strömte herein. Sie blickte sich um und nickte, als habe sie nichts anderes erwartet. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Gebäck. Jemand hatte eine Glaskaraffe auf dem Boden zertrümmert. Die Weinlache auf dem Ziegelboden war mit Eiskristallen überzogen und von Splittern durchsetzt. Unter einem Schaffell lag die Äbtissin und atmete stoßweise, als quäle sie ein schwerer Traum.

Kunigunde beugte sich zu der Schlafenden hinunter und schlug das Fell zurück. Udas rechte Gesichtshälfte war fahl, die linke dagegen feuerrot. „Er hat es getan“, murmelte die Kaiserin. „Es ist tatsächlich geschehen.“ Sie fasste die Nichte bei der Schulter, rüttelte sie und rief mehrmals deren Namen.

Verwirrt fuhr die Äbtissin empor, streckte abwehrend die Hände gegen ihre Tante aus und schrie in panischer Furcht: „Apage satanas! Apage satanas!*“

„Weit hast du es gebracht, Uda“, rief Kunigunde zornig, „wenn du in mir schon den Satan siehst.“

Aufschluchzend fiel die Äbtissin der Kaiserin in die Arme und berichtete, von Weinen geschüttelt, dass ein Dämon sie in der vergangenen Nacht heimgesucht habe. „Er hat mich auf Glassplittern knien lassen, hat mich geschlagen, mich ins Höllenfeuer geworfen“, wimmerte sie.

„Weit hast du es gebracht“, wiederholte Kunigunde, „wenn du zwischen guten und bösen Mächten nicht mehr unterscheiden kannst. Wann führten Satan und seine Gefolgschaft je Gott im Mund? Wer sollte die ’regula’ denn besser kennen als Sankt Benedikt? Er war es, der sich aus den Sphären der Himmlischen herabbemühte und dich wegen deiner Nachlässigkeiten züchtigte. Ich sah es in einem Traum voraus. Aber auch das besagt die ’regula’: Wie es einen bösen Eifer gibt, der von Gott trennt, so gibt es den guten Eifer, der zu Gott führt. Deshalb steh endlich auf und besinne dich.“

Mit zusammengebissenen Zähnen zog sich die Äbtissin unter dem gestrengen Blick der Kaiserin die Glassplitter aus den Knien, wechselte den beschmutzten Habit und warf sich mit zitternden Händen den Schleier über. Kunigunde aber griff nach der Schale und warf sie samt Gebäck aus dem Fenster. Kreischend machten sich die Raben über das unverhoffte Frühstück her.

Gemeinsam betraten die beiden Frauen dann das Refektorium, eingehüllt in die Anonymität der Kapuzenmäntel.

Bei ihrem Erscheinen setzten sich die Nonnen in Bewegung. Langsam zog die Prozession über den verschneiten Klosterhof, vorbei an der unfertigen Kirche, hinein in die Kapelle. Als Letzte folgten die Kaiserin und die Äbtissin. Die langen Mäntel verbargen, dass beide barfuß durch den Schnee liefen. Kunigunde hoffte sehr, der Himmel werde dies als Akt der Wiedergutmachung für den bösen Eifer gelten lassen, mit dem ihre Nichte Uda die ’regula Benedicti’ mit Füßen getreten hatte.

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Äbtissin Uda behielt für den Rest ihres Lebens ein feuerrotes Drei-Finger-Mal auf der linken Wange. Weil aber nicht einmal die die Nonnen die wahre Geschichte der Herkunft dieses Males kannten, in der vornehmen Gesellschaft vielen jedoch gewisse Nachlässigkeiten der Äbtissin zu Ohren gekommen waren, tuschelte man bald von Kaufungen bis Bamberg hinter vorgehaltener Hand, die Kaiserin habe ihrer Nichte in bewährter familiärer Weise einen handfesten Denkzettel verpasst. Nur die Hohe Frau und die Pförtnerin Coelestina hätten die Wahrheit anzubieten gehabt, aber die erstere schwieg aus Gründen der Ehre und letztere war sich eben nicht so sicher, ob sie eins und eins richtig zusammenzählen durfte.

 

 

*Dormitorium = Schlafsaal

*Refektorium = klösterlicher Speisesaal

*Komplet, Matutin, Laudes = Abendgebet; nächtliches Gebet, Morgengebet

*konsekrieren = weihen

*Konvent = hier: eine Ordensgemeinschaft

*Sakristanin = Pflegerin der Kirche

* habitus = klösterliches Gewand

* Apage satanas! = Weiche Satan!

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